Ein unpassendes Paar

Ein Drittel der Alkoholabhängigen sind hierzulande Frauen. Anders als Männer trinken Frauen meist heimlich. Die Forschung nimmt sich erst langsam des geschlechtsspezifischen Trinkverhaltens an

von SYLVIA MEISE

Mechthild ist das, was man eine starke Frau nennt. Raue Stimme, kehliges Lachen – die schlanke Mittfünfzigerin wirkt zuverlässig und selbstbewusst. Doch dieses Selbstbewusstsein ist noch jung und hart erkämpft – erst seit zwei Jahren ist Mechthild „trocken“. Dass sie heute offen zu ihrem Alkoholismus stehen kann, hat sie bittere Kämpfe mit sich selbst gekostet. Lang genug hat sie sich und anderen etwas vorgemacht. Heute sagt sie: „Ich bin nicht mehr pflegeleicht.“

Frauen und Alkohol sind ein unpassendes Paar. Zwar wertet auch einen Mann das Saufen nicht auf, aber während er mit eher gleichgültigem Wegschauen rechnen darf, erregt sie in der Öffentlichkeit angeekelte Faszination. Ablehnung ist ihr sicher, denn sie fällt aus der Rolle. Männer trinken mehr als Frauen. Das gilt unverändert, doch fast unbemerkt haben die Frauen aufgeholt.

Knapp zehn Millionen Deutsche haben Alkoholprobleme, ein Drittel davon Frauen, Tendenz steigend. Anti-Alkohol-Kampagnen zielen dennoch immer auf die Männer. Frauen kamen bis vor kurzem in der Alkoholforschung gar nicht vor. Dafür wird es allmählich Zeit. Denn der „Europäische Aktionsplan Alkohol 2000–2005“ sieht vor, dass bis zum Jahr 2005 „alle Länder der europäischen Region eine zugängliche und wirksame Behandlung für die Personen und ihre Familien sicherstellen, deren Alkoholkonsum in den Bereich des gefährlichen oder schädlichen Konsums fällt und bis zur Alkoholabhängigkeit reicht“.

Für eine 1999 durchgeführte EU-Studie „Trinkverhalten und Alkoholprobleme bei Frauen in Europa“ gestaltete sich allein schon die Datensuche schwierig. Aus bereits durchgeführten Surveys filterten das Team um Kim Bloomfield von der Freien Universität Berlin und ihre Kollegen aus acht anderen europäischen Ländern ein Jahr lang vergleichbare Zahlen heraus. Für das geplante Folgeprojekt wollen die Sozioepidemiologen die Befragungen demnächst selbst durchführen. Das Ziel: Alkoholkonsum und das Trinkverhalten von Frauen sollen weltweit untersucht werden, um für die Gesundheitspolitik praktikable Präventivmaßnahmen entwickeln zu können.

Zwar sollen dann alle Probandinnen denselben Fragenkatalog erhalten, doch gewisse Unsicherheiten werden auch dann noch bleiben. Wer antwortet schon ehrlich auf die Frage: „Wie viel trinken Sie?“ Was dann aufgeschrieben wird, ist abhängig vom landesüblichen Kodex: Was darf frau, was nicht?

Frauen und Männer, hat Kim Bloomfield festgestellt, interpretieren ihren Alkoholkonsum unterschiedlich. Dasselbe Szenario, das ein Mann als „harmlosen Kater“ bezeichnet, werde von einer Frau häufig bereits als „Suchtsymptom“ definiert. Auch solcherlei Abweichungen in der Selbstwahrnehmung, so die Forscherin, gilt es in die Untersuchung einzubeziehen.

Der Abschlussbericht der EU-Studie zählt die Geschlechterrolle mit zu den Suchtauslösern: Bereits seit den späten Siebzigerjahren werde vermutet, „dass Frauen in dem Maß das Trinkverhalten von Männern annehmen, wie ihre Emanzipation voranschreitet und sich zunehmend in Berufe und/oder Lebensstile hineinbewegen, die denen der Männer ähnlich sind“.

Im Klartext: Allein stehende und besser ausgebildete Frauen trinken mehr Wein oder Bier als andere. In Führungsetagen, Forschungslabors oder wo auch immer Männer eher selten auf Kolleginnen treffen, gibt es für Frauen nicht nur gläserne Decken, sondern auch einen Mangel an Vorbildern oder Rollensicherheit. Hier setzt die Gefährdung ein. Es sind Gefühle von Einsamkeit und Angst, die bei Frauen als Hauptgrund fürs Trinken genannt werden. Begründungen, die gesellschaftliche Unsicherheiten widerspiegeln.

Suchtrisiko besteht immer dann, wenn als unerträglich empfundene Situationen, für die es keine praktikablen Modelle gibt, regelmäßig kompensiert werden. Dazu zählen für Frauen sowohl die Dreifachbelastung Haushalt, Arbeit, Familie („role overload“) wie ihr Gegenteil, die mangelnde Rollenauslastung („role deprivation“). Geschlechtsunabhängig indes, stellten die Forscher fest, ist das Mutantrinken und der Wunsch, Probleme zu vergessen.

Dass Männer anders trinken als Frauen, bestätigt Edda Haak vom Diakonischen Werk in Frankfurt am Main. Sie bildet Leiter von Selbsthilfegruppen – Suchthelfer – aus und hat von daher einen praktischen Blick auf Alkoholkranke. Die Selbsthilfegruppen, erklärt Haak, übernehmen einen wichtigen Teil des „Trockenlegens“, werden zur zweiten Familie für Exsäufer oder Partner von Trinkern. „Frauen“, konstatiert die Sozialarbeiterin, „trinken eher heimlich, während Männer mit ihren Kumpels in die Kneipe gehen.“ Mechthild und Klaus, die beide gerade einen Suchthelferlehrgang machen, erfüllen Haaks Klischees genau.

Mechthild gehörte zu den heimlichen Alkoholikerinnen. Vier harte Jahre lang hat sie sich mit dem Warum ihres Trinkens auseinander setzen müssen. Ihre größte Überwindung: „Als ich für mich und vor der Öffentlichkeit sagen konnte: Ich habe keine Magenschmerzen, ich habe nicht dies oder das – ich bin schlicht Alkoholikerin.“ Für sie war es der Anfang des Ausstiegs. Dabei geben Freunde, Bekannte und Lebenspartner den Süchtigen gern bequeme, aber grundfalsche Ratschläge. Etwa: „Mach mal die Therapie, die kriegen dich schon wieder so weit, dass du zumindest kontrolliert trinken kannst.“

Kontrolliertes Trinken gibt es nicht, das weiß Mechthild heute. „Jahrelang habe ich mich dagegen gesträubt, eine Therapie zu machen, weil ich überzeugt war, wenn es jemand schafft ohne Therapie, dann ich! Und bin ganz saftig auf die Nase gefallen.“ Klaus, der ihr Sohn sein könnte, glaubt, dass alle so denken: „Man geht als Gesunder in die Therapie und kommt als Kranker raus. Und wer gesund rauskommt, der hat’s nicht geschafft, der wird irgendwann wieder rückfällig. Ich muss mit dem Gefühl aus der Therapie rauskommen, dass ich Alkoholiker bin, dass mich die Krankheit verfolgt, bis ich sterbe. Wenn ich das nicht begreife, schaff’ ich es nicht.“ Klaus muss es wissen, er war vor zehn Jahren schon mal „trocken“. Er hofft, dass er es diesmal packt.

Während es heute Selbsthilfegruppen speziell für Alkoholikerinnen gibt, wandte sich die Suchtberatung früher vor allem an Frauen als Angehörige von Alkoholikern. Mit Emanzipation hatten diese Frauen nicht viel im Sinn. Hundertmal wollten sie gern glauben, dass er nichts mehr trinkt, sich ändert und so weiter. Hundertmal riefen sie beim Arbeitgeber an, sagten aber nicht: „Mein Alter liegt besoffen auf dem Sofa“, sondern: „Mein Mann hat Grippe.“ Sie kochten, kauften ein und regelten auch sonst den Alltag – und ermöglichten damit erst die Langzeitsucht. War der Knoten aber geplatzt, suchten sie Hilfe. Die Männer hingegen, die es jetzt zunehmend unter den Angehörigen gibt, seien beschämt, erzählt Haak, „sie können nicht mit der Abhängigkeit ihrer Partnerin umgehen“.

Für die Forscher der europäischen Untersuchung ist das Trinkverhalten von Rollenverständnis und Trinkkultur abhängig. Beide Faktoren sind innerhalb Europas sehr unterschiedlich ausgeprägt. Im Abschlussbericht der konzertierten Analyse heißt es: Rollen und Kombinationen von Rollen haben „in jedem Land einen anderen Stellenwert in Bezug auf starken Alkoholkonsum“.

In Finnland etwa, einem Land mit weit reichender Gleichberechtigung, scheinen Frauen mit allen Rollen gleich gut klarzukommen: Weder Ehe, Arbeit noch Kindergeschrei lösen bei ihnen signifikant den Griff zur Flasche aus. In Deutschland sind es die bereits geschilderten berufstätigen Frauen ab 45, die zur Risikogruppe gehören. In der Schweiz zählen hierzu vor allem verheiratete, kinderlose Frauen. Europaweit generalisieren lässt sich die Problematik also nicht. Lediglich zwei Konstanten werden genannt: „Geschiedene Männer trinken in jedem Land den meisten Alkohol“, und für Mütter jeden Alters verringert sich das Risiko, alkoholkrank zu werden.

Hier fällt Mechthild aus dem Raster. Sie hat zwei erwachsene Kinder, und die verstehen sie heute besser als ihr Mann. Die Wege in die Sucht mögen verschieden sein, glaubt sie, bei denjenigen aber, die im Kreisel Abhängigkeit ihre Runden drehen, gebe es grundsätzlich Parallelen. „Und wenn sie noch so klein sind, sie ziehen sich durch jede Saufkarriere.“

Männer und Frauen trinken unterschiedlich viel zu unterschiedlichen Anlässen. Auch die Anzahl der Alkoholkranken differiert. Bisher gab es für dieses Auseinanderklaffen den Fachbegriff „Gender-Gap“ – die Geschlechterkluft. Nun gilt es zu klären, inwieweit geschlechtsspezifische Trinkmuster generations- oder altersbedingt sind. Bei den jungen Frauen sind Opferrolle und Zurückhaltung jedenfalls out. Das lässt ein generationsbedingtes Verhalten vermuten. Und tatsächlich: Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass das Pendel jetzt kräftig in die andere Richtung ausschlägt: Mädchen konsumieren mehr Alkohol als Jungs. Möglich also, dass sich das Gender-Gap bald schließt.

SYLVIA MEISE, 39, lebt als freie Journalistin in Frankfurt am Main