Die Katze reizen

Welche Ziele verfolgt die lateinamerikanische Linke nach dem Weltsozialforum in Porto Alegre? Fragen an João Pedro Stedile

Interview von GERHARD DILGER

Der Brasilianer João Pedro Stedile gehört zur nationalen Leitung der „Bewegung der landlosen Landarbeiter“ (MST) und ist Mitglied im brasilianischen Organisationskomitee des Weltsozialforums von Porto Alegre.

taz: Herr Stedile, das Weltsozialforum ist vor gut drei Monaten zu Ende gegangen. Welches Fazit ziehen Sie aus der Distanz?

Stedile: Porto Alegre war ein Hafen für Menschen aus aller Welt, die sich vergewissern wollten, dass es möglich ist, sich gegen das Kapital zu erheben. Es war ein pluralistisches Treffen. Der Prozess ist zweigeteilt: Einige organisieren Veranstaltungen, um alternative Vorschläge zu diskutieren. Andere wollen eine internationale Protestbewegung gegen den Neoliberalismus aufbauen.

Gerade in Europa wurde kritisiert, dass es kein Abschlussdokument gab, das Perspektiven eröffnet hätte. Ist das für Sie ein Problem?

In der akademischen Tradition Europas, gerade auch der Linken, sind Thesen und Dokumente sehr wichtig. Die sozialen Bewegungen in der Dritten Welt drücken ihren Konsens in anderen Formen aus. Gerade auf Veranstaltungen dieser Art müssen wir pluralistisch bleiben. Aus politischen und pädagogischen Gründen haben wir uns gegen ein Abschlussdokument entschieden.

Aber in den Tagen vor der Abschlussveranstaltung kam der Eindruck auf, dass das Komitee über diese Frage geteilt, gelähmt war.

Das Gerede von Spaltung ist Blödsinn. Mit unserer Arbeitsweise versuchen wir zu vermeiden, dass Einzelne in den Medien groß rauskommen oder folklorisiert werden. Die Themen werden dabei nur banalisiert.

Die Bauernorganisationen waren in Porto Alegre sehr aktiv – Schwarze, Indígenas oder Jugendliche aus den Armenvierteln der Städte kamen nicht so recht zum Zug. Der Diskurs wurde von Akademikern, Nichtregierungsorganisationen und Politikern dominiert. Wie haben Sie die so genannten „Ausgegrenzten“ erlebt?

Auch wir haben diese Selbstkritik geübt. Offensichtlich dominierten in Porto Alegre die Weißen, der Westen, die über 30-Jährigen mit politischer Erfahrung. Wir müssen versuchen, diesen Ideenaustausch in unseren Ländern zu reproduzieren. Deshalb plädieren wir von der MST und von der Via Campesina dafür, dass wir uns ab 2002 an mehreren Orten treffen, damit all jene, die in sozialen Kämpfen stecken, an dieser Debatte teilhaben können und die Möglichkeit geschaffen wird, dass eine Volksbewegung daraus wird.

Andere kritisierten den dominierenden „Reformismus“.

Das Forum wurde weder von ultralinken Flügeln wie Trotzkisten oder Anarchisten dominiert noch von der „rechten Linken“. Natürlich gab es dort sozialdemokratische, reformistische Kräfte. Aber die Forderung nach radikalen Änderungen war der zentrale Kern, um den sich die Debatten drehten. Das Forum war sich einig: Man darf die Auslandsschulden nicht bezahlen. Ich bin sicher, der internationalen Bourgeoisie hat Porto Alegre kein bisschen gefallen.

Auffällig war, wie dünn Mittel-, Ost- und Nordeuropa vertreten waren.

In Europa haben wir ein Problem. Die Gewerkschaftsbewegung steckt in großen Schwierigkeiten. Für Porto Alegre hat Attac [das Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte; Anmerkung der Redaktion] mobilisiert, keine soziale Bewegung. Schwierig ist es aber auch in Afrika, Asien und der arabischen Welt. Bei aller berechtigten Kritik am Treffen: Es geht vor allem darum, den Prozess zu sehen, und der muss sich ausweiten.

Daher auch die Idee weiterer Paralleltreffen, die zeitgleich zu Porto Alegre 2002 stattfinden sollen.

Die Leute werden angeregt, nationale Komitees zu bilden. In Dutzenden von Ländern ist man dabei, dies zu tun, als erster Schritt. Zu parallelen Treffen könnte es zum Beispiel in Bangkok, Quito, Dakar und in den USA kommen.

Ein Kristallisationspunkt für die Linke in ganz Amerika ist die geplante Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (FTAA), die im Dezember 2005 Realität werden soll. Was kann man ihr entgegensetzen?

Die FTAA ist ein Projekt der US-Multis, um den lateinamerikanischen Markt noch besser berherrschen zu können. Wenn es den USA gelingt, die FTAA durchzusetzen, werden sie einen langen Kampf um die nationale Souveränität auslösen. Zentral sind dabei die großen Länder, die sich dem entgegenstellen könnten. Mexiko ist praktisch schon drin. Und auch Argentinien ist bereits eine Geisel der USA, weil es seine Wirtschaft dollarisiert hat. Die große Herausforderung ist also Brasilien.

Wir können die FTAA nur aufhalten, wenn es uns in den nächsten drei Jahren gelingt, die Massenbewegung wieder zu entfachen. Wir brauchen ein wenig historische Geduld. Die Zeit zwischen 1974 und 1978 war so ähnlich wie jetzt. Das Volk hatte die Nase voll von der Diktatur, aber man ging noch nicht auf die Straße. Ich bin zuversichtlich, dass es in zwei, drei Jahren so weit ist.

Auch der Widerstand gegen den Plan Colombia wird immer wieder als gemeinsames Anliegen der lateinamerikanischen Linken genannt. Aber wie soll das konkret aussehen?

Die brasilianische Linke ist sich der US-Intervention bewusst, doch sie ist nicht in der Lage, dagegen zu mobilisieren, denn die meisten Brasilianer wohnen an der Küste und nicht in Amazonien. Eher noch glaube ich, dass man über die Rolle der Multis bei der Gentechnik oder den Patentgesetzen an die Leute herankommt. Ich glaube, die einzige Chance gegen den Plan Colombia haben wir, wenn es eine Rebellion in Ecuador gibt. Dann könnten sich die Kräfteverhältnisse im andinen Raum verschieben. Wenn dagegen in Kolumbien, einem Land ohne Gesetz, das Pendel in die ein oder andere Richtung ausschlägt, dann könnte es zu einem Bürgerkrieg in ungekanntem Ausmaß kommen.

Von der kolumbianischen Guerilla gehen ja keine innovativen Impulse aus, ganz im Gegensatz zu den Zapatistas. Kommen die zum nächsten Weltsozialforum und werden sie die Diskussion bereichern?

Bestimmt. Aber ich fürchte, der Zapatismus hat sich letztlich reduziert auf die Frage der Autonomie für die indigenen Völker. Aber für den Kampf gegen das internationale Kapital müssen die Massen mobilisiert werden. In dieser Hinsicht sind die Zapatistas hinter den Erwartungen zurückgeblieben, sicher auch, weil sie jahrelang in Chiapas eingeschnürt waren.

Zurück zur Gentechnik. Warum, meinen Sie, eignet sie sich besonders gut zur Bewusstseinsbildung?

Sie bringt die Konsumenten und die Bauern zusammen. Bei Gensoja und Genmais gibt es ungeklärte Risiken für Gesundheit und Umwelt. Und wenn die Multis eine Monopolstellung beim Saatgut erlangen, bedeutet das das Ende für die Kleinbauern. Sie werden zu Pächtern degradiert, und die Multis entscheiden über Technik und Saatgut. Die Kleinbauern wissen um die Bedeutung des Saatgutes für ihre Autonomie. Und außerdem kommt das Thema auch in Europa und Nordamerika gut an.

Worum ging es bei den weltweiten Protesten der Via Campesina Mitte April?

Wir wenden uns gegen die Gentechnik und gegen Agrarimporte. Jedes Volk muss das Recht haben, das zu produzieren, was es braucht. Und was darüber hinausgeht, kann im bilateralen Handel mit anderen ausgetauscht werden. Das verstehen wir unter Ernährungssicherheit.

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Landlosenbewegung und der brasilianischen Regierung?

Das ist ein Katz-und-Maus-Spiel. Wir versuchen, der Katze den Käse zu klauen, und wenn die Katze uns schnappt, dann frisst sie uns. Aber wir sind noch nicht stark genug, um der Katze eine Schelle umzuhängen. Wir tun alles, um gegen Symbole des Wirtschaftsmodells zu kämpfen. Wir verfolgen damit auch eine pädagogische Absicht für all jene, die noch kein Bewusstsein darüber haben. So hoffen wir, immer mehr Leute gegen die Regierung aufzubringen. Wir müssen die Katze schlagen und fliehen, das ist eine Pendelbewegung.

Für die Regierung scheint die MST der Lieblingsfeind zu sein . . .

Ja, sie setzt ihr Agrarmodell mit Biegen und Brechen durch, sie will ganz offensichtlich keine Agrarreform im klassischen Sinn durchführen, sondern uns als politische Organisation besiegen. Anders als während der Militärdiktatur geht es weniger um nackte physische Gewalt. Jetzt läuft die Repression über die Justiz. Es sind 180 Verfahren gegen uns anhängig. Dazu kommen die Bespitzelung durch die politische Polizei und die Kampagnen in den Massenmedien, durch die die Gesellschaft gegen uns aufgebracht werden soll.

Auch wenn wir keine spektakulären Erfolge hatten, die Anzahl der Mobilisierungen steigt. Um den internationalen Frauentag herum gab es die bisher größten Aktionen von Bäuerinnen, gleich danach von der Bewegung gegen Staudämme. Manchmal müssen wir Landlose diese quasi feuerwerksartigen Aktionen machen, wie die Zerstörung des Monsanto-Versuchsfeldes während des Weltsozialforums oder die Besetzung eines Landgutes des brasilianischen Botschafters in Italien. So machen wir die Leute auf die Lügen der Regierung aufmerksam.

GERHARD DILGER, 42, ist taz-Korrespondent in Brasilien