Wechselvolle Geschichte und der ganze Rest

■ „England's Dreaming“: Punk-Chronist Jon Savage gastiert auf seiner Lesetournee im Schlachthof

Der Spuk dauerte keine 26 Monate. Vom ersten Konzert im Londoner St. Martin's College im November 1975 bis hin zu den legendären letzten Worten Johnny Lydons am 14. Januar 1978 im ausverkauften Wintergarden in San Francisco: „Ever get the feeling you've been cheated?“ Tatsächlich hatten die Sex Pistols die Pop-Welt ver-arscht wie kaum eine Band zuvor. Der Great Rock'n'Roll Swindle, den Manager Malcolm McLaren um seine zusammengeklaubte Boygroup fabrizierte, war das inszenierte Spiel eines zwar genialen, aber auch geschäftstüchtigen Kunststudenten: „Ich dachte, sie könnten die Bay City Rollers werden. Das hatte ich im Kopf“, so McLaren in einem von zahlreichen Geständnissen, aufgezeichnet in Jon Savages 1991 erschienenen Underground-Bestseller England's Dreaming, der jetzt endlich auch auf Deutsch in der Edition Tiamat vorliegt. Dabei geht es in diesem Buch nicht nur um das Kalkül im Musikgeschäft und auch nicht nur um die Sex Pistols. Jene profilierten sich lediglich als Geburtshelfer und Totengräber ein und derselben Bewegung.

Savage beweist sich auf über 500 Seiten in erster Linie als aufmerksamer, und – in jedem Falle wichtig – detailverliebter Chronist einer Pop-Revolution, die nicht nur England vorübergehend aus dem Schlaf riss. „There's no future in England's dreaming“ – ein Satz der Sex Pistols weckt im Musikjournalisten Savage den Kultur-Soziologen des rezessionskranken Englands der frühen 70er Jahre. Im Gegensatz zu Greil Marcus, der seinen Lipstick Traces mittels eines mythischen Zeichensystems durch die Jahrhunderte nachirrte, urteilt Savage erfrischend nüchtern. Einzelbiographien verknüpfen sich bei ihm zu einem gesellschaftlichen Kontext namens Punk. Dabei fokussiert er zunächst die verschiedenen Anfänge der Bewegung anhand der wechselvollen Geschichte jenes Gebäudes, in dem McLaren zusammen mit Vivienne Westwood 1971 ihren Klamottenladen eröffnete. Am Schicksal der Londoner 430 King's Road werden die historischen Referenzen dokumentiert, aus denen sich später das Stil-Konglomerat Punk zusammensetzten sollte. Im Spannungsfeld des Ladens, der einen sicheren Hafen für alle Teddy Boys, Mods, Glam-Rocker und sonstigen Fashion-Dropouts bot, konzentrierte sich das Verlangen nach neuen Distinktionsmitteln. Ein Verlangen, das das Gefüge aus tradierten Jugend- und wechselnden Retro-Chic-Bewegungen, aber auch den gesellschaftlichen Konsens (wenn es denn einen gegeben hat) zusammenbrechen ließ. Ob „Let it Rock“, „Too Fast to Live, too Young to Die“ und später „Sex“ – die Namen des Ladens lieferte die Parole zur Zeit. McLarren und Westwood lernten derweil, wie Subkulturen funktionieren, kulturell und vor allem kommerziell. Die Sex Pistols sollten mit ihren ersten Auftritten dann auch zuallererst Werbung für „Sex“ machen, die Musik kam später.

Und sie kam aus den USA. Während in England Bowie und Roxy Music das hipste der Gefühle waren, schwappte mit Ramones und New York Dolls ein neues musikalisches Selbstverständnis über den Atlantik. Stil war plötzlich wichtiger als musikalisches Können, Au-thentizität oberstes Gebot im Kampf gegen die Apathie der Gesellschaft. McLaren fand beides in Johnny Lydon, der eines Tages mit einem „I hate Pink Floyd“-T-Shirt im Laden aufkreuzte. „Wir wussten, dass er nicht singen konnte und kein Rhythmusgefühl hatte“, schildert McLaren seinen Eindruck von Lydon als Musiker, „aber er hatte diesen Charme eines Jungen, der unter Schmerzen versuchte, so zu tun als sei er cool.“ Für den später eingestiegenen Sid Vicious war selbst das nicht mehr cool genug. Er überlebte die Pistols um ein Jahr.

Was die Lektüre von England's Dreaming heute vor allem vermittelt, ist der Tod der Idee „Subkultur, wie wir sie kennen“. Die Handlanger des Mainstream haben sich getarnt und lungern mittlerweile überall herum – in Hamburg natürlich am liebsten am Schulterblatt. Würde dort jemand wie Lydon mit seinem T-Shirt vormittags entlanglaufen, sorgen sie dafür, dass man es abends für 19,90 bei H&M kaufen kann. Symbole und Provokationen haben ihr Distinktionspotential endgültig verloren. Sex sells Tütensuppen und Nacktheit langweilt nur noch. Ein Pop-Provo wie Robbie Williams musste sich letztes Jahr in einem Video schon die Haut vom Leibe ziehen, um überhaupt noch einen Skandälchen geschenkt zu bekommen.

„Welche Rolle spielt schon Wirklichkeit, wenn man Eindruck schinden kann?“ lässt Savage McLaren an einer Stelle fragen. Die Antwort kommt heutzutage als schrilles Echo aus dem Big-Bro-ther-Container zurück. Der Rest ist Geschichte. Michael Hess

Lesung mit Vorführung zeitgenössischer Filme- und Videos sowie anschließendem Plattenauflegen: Donnerstag, 20 Uhr, Schlachthof; Jon Savage, England's Dreaming, Edition Tiamat 2001, 544 Seiten, 58 Mark