Dämmerung auf dem Gipfel

Empathie als Universalkitt: Mit seiner Musik erweist sich Nitin Sawhney als manischer Perfektionist. Für sein Album „Prophesy“ bereiste er sechs Länder und bewegte über 240 Musiker zur Mitwirkung

von JAY RUTLEDGE

„Wenn du eine Passion für etwas hast“, erläutert Nitin Sawhney, in der Hand sein neues Album „Prophesy“, „dann kannst du gar nicht anders, als dich um jedes Detail zu kümmern. Ich bin kein control freak. Trotzdem habe ich bei der Grafik und den Fotos, ja selbst beim Schrifttyp mit entschieden.“ Was seine Musik angeht, war er nicht weniger manisch: Über 240 Musiker waren an „Prophesy“ beteiligt, vom Kammerorchester bis zum Kinderchor aus Soweto, von Stargästen wie dem Raisänger Cheb Mami, Terry Callier und Natacha Atlas ganz zu schweigen. Sechs Länder hat Nitin Sawhney dafür bereist, fast so etwas wie ein Konzeptalbum ist entstanden.

Stets sucht er dabei den direkten Kontakt zu den Kollegen, deren Beteiligung er wünschte. „Wenn ich ein Sample von Trilok Gurtu möchte, dann gehe ich zu ihm und nehme eins auf. Wenn ich einen brasilianischen Streichersatz will, dann fahre ich nach Brasilien. Ich will nicht einfach ein Sample draufklatschen.“ Samples kommen deshalb auf „Prophesy“ so gut wie keine mehr vor. Seine Mitmusiker hat er nach Sympathie ausgewählt und danach, ob sie den Ausdruck treffen, der seinen Vorstellungen entspricht. Terry Callier sei „einfach ein unglaublicher Geschichtenerzähler“, meint Nitin Sawhney. Und den Raisänger Cheb Mami lernte er letztes Jahr kennen, als dieser im Vorprogramm von Sting tourte.

Charakteristisch für sein Vorgehen ist der spanisch-brasilianisch-algerische Song „Moonrise“. „Moonrise wurde in vier Ländern eingespielt: Die Flamenco-Gitarre in Spanien, die Perkussion in London, Cheb Mami in Paris und den brasilianischen Chor in Rio de Janeiro“, zählt Sawhney stolz auf. Eine selbst eingespielte Flamenco-Passage nahm er wieder vom Band, um sie von der Gitarren-Legende Pepe Habichuela einspielen zu lassen. Am Ende entschied er sich dann aber doch für eine Version von dessen Sohn José. Zum Schluss mischte er etwas Meeresrauschen unter die Aufnahme.

Auch das entspricht Nitin Sawhneys Philosophie. „Emotion ist der Kitt, der Länder- und Stilgrenzen überwindet“, davon ist er überzeugt. „Prophesy“ soll deshalb auch als Kommentar zur westlichen Lebensweise verstanden werden. Denn der technische Fortschritt, meint Sawhney, bringe die Menschen nicht enger zusammen, sondern führe vielmehr dazu, dass sich jeder immer mehr in eine Art Kokon eingrabe. „Auch das Internet“, findet er, „schafft nur mehr Distanz zwischen den Menschen.“ Darum sucht Nitin Sawhney nach spirituellen Enklaven in einer vom technischen Fortschritt noch nicht völlig vereinnahmten Welt. Er hat Aborigines getroffen und Nelson Mandela, dessen Satz „you’re free to be free“ bei ihm im Sample auftaucht.

Das klingt nicht nur ein wenig nach Abiturienten-Weltanschauung, das gerät zuweilen auch etwas klischeehaft. Muss es denn schon wieder Nelson Mandela sein? Und muss man das Gespräch mit einem australischen Aborigene, man ahnt es schon, mit dem Klang eines Didgeridoos untermalen?

Aus „gefühlter Tiefe“ und „Spiritualität“ leitet Sawhney, so scheint es, Nähe und Verständnis für andere Kulturen ab. Und um die Tiefe seiner sechs Länderreisen zu unterstreichen, erzählt er, wie er jeden Tag zur Morgen- und Abenddämmerung das Stück „Prophesy“ auf seiner akustischen Gitarre gespielt habe, um eine Verbindung zur jeweiligen Umgebung herzustellen – egal, ob er nun gerade auf einem Berg in Südafrika oder in der Steppe Australiens war. Da hat man den Eindruck, dass ihn auch seine Emotionen zuweilen in einem Kokon festkleben lassen.

Seine früheren Alben kreisten noch stark um Themen wie „Migration“, so der Titel seiner ersten Platte, und „kulturelle Identität“. Mehrere Jahre lang arbeitete Nitin Sawhney auch als Texter für die Fernsehsatire „Goodness Gracious Me“, die satirisch auf das Leben der indischen Einwanderer in Großbritannien blickte.

„In der Vergangenheit habe ich viel Zeit damit verbracht, über meine Identität als British Asian nachzudenken“, gibt Nitin Sawhney zu. Doch dieser Prozess scheint nun abgeschlossen. „Heute fühle ich mich wohl in meiner Haut. Ich bin glücklich darüber, wer ich bin, und muss mich nicht mehr ständig damit beschäftigen, wie der Rest der Welt mich sieht.“ Da scheint es fast logisch, dass er sich vom „Asian Underground“-Plattenlabel Outcaste trennen musste. „Outcaste begann, sich wie eine selbst auferlegte Ghettoisierung anzufühlen – das schwingt ja schon im Namen mit. Ich will meine Musik aber allen zugänglich machen, ohne dabei Kompromisse schließen zu müssen.“

Was sein Publikum angeht, hat er es geschafft, die Grenzen unterschiedlicher Szenen zu durchbrechen. „Die meisten sind so zwischen 18 und 25 Jahre alt“, hat Sawhney bei seinen Konzerten beobachtet, und außerdem sehr gemischt: „Asians, Schwarze, Weiße, Frauen, Männer, alle möglichen Leute. Vor allem aber solche, die nicht bloß trendig sein wollen. Das ist das beste Publikum, das man haben kann.“

Nitin Sawhney: „Prophesy“ (V2)