Erkenntnis ohne Bekenntnis

Misstrauen hilft: Esther Dischereits Essaysammlung zum deutschen Umgang mit Tätern und Opfern

Sie ist Jüdin und bezeichnet sich gleichzeitig als „knalldeutsch“. Sie bekennt sich zum politischen Aktivismus und schreibt literarische Texte. Sie sagt von sich, „ich kann nicht gerecht sein“, und artikuliert ein vehementes „Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit“. Es sind Identitätsfragen, die Esther Dischereit umtreiben, Probleme der Selbst- und Fremdwahrnehmung, Erfahrungen von Ausgrenzung und Zugehörigkeit gleichermaßen: „Jüdisch-Sein in Deutschland nach 45 ist einfach unwahrscheinlich, sozusagen unwirklich.“ Sie hadert mit sich im Umgang mit Philosemiten und Antisemiten, fühlt sich nicht kompetent, um über ein bestimmtes Verhalten urteilen zu können, klagt, polemisiert und kokettiert: „Abschließend sei bemerkt, dass ich nicht Rosa Luxemburg war, sondern eine Mischung aus Florence Nightingale und Jeanne d’Arc.“

In ihrer jüngsten Sammlung aus Essays der letzten drei Jahre mischen sich feministische Töne mit politischen und poetologischen; Dischereit betont selbstbewusst ihre Intellektualität, die ihr schon oft Probleme bereitet habe, und ist gleichzeitig dazu in der Lage, eigene Ängste und Defizite freimütig offen zu legen.

Aus diesem Spannungsverhältnis, dieser Ambivalenz von heiligem Zorn und selbstironischem Misstrauen (sich und allen anderen gegenüber), entstanden diese Invektiven, die manchmal undifferenziert und sprunghaft erscheinen, die aber eine persönliche Haltung stets deutlich erkennbar werden lassen. Der Bogen an Fragen und Themen, die hier verhandelt werden, ist weit gespannt: Dischereit schreibt unter anderem über Martin Walsers Friedenspreisrede, über Jörg Haiders Politik, über die Hintergründe des Kinofilms „Aimée & Jaguar“, über den Freund und Kollegen Jürgen Fuchs und die Stasi und über die Hitler-Unterschrift eines deutschen Musikers in Israel. Ob es nun kleine Alltagsgeschichten sind, gegenwärtige oder vergangene, oder öffentliche Vorgänge, im Mittelpunkt ihres Interesses steht der Umgang mit Tätern und Opfern in Deutschland.

Sie sieht nach wie vor „zweierlei Wahrheiten“, sich wiederholende Ansätze zur kollektiven Entlastung, alte und neue Scheinheiligkeiten, Stereotype und Diskriminierungen. In ihrem Nachfragen und im Beschreiben von Ungereimtheiten und Ungeheuerlichkeiten ist sie pointiert und beharrlich, in den Schlussfolgerungen und Urteilen aber manchmal zu salopp: „Ich klage immer noch an, Nazis oder Stasis – so ist es doch mit dieser Generation, wenn wir bei der Wahrheit bleiben.“

THOMAS KRAFT

Esther Dischereit: „Mit Eichmann an der Börse. In jüdischen und anderen Angelegenheiten“. Ullstein Berlin, Berlin 2001, 170 Seiten, 34 DM