Heidi grüßt vom Fujiyama

Wespentaille und untertassengroße Augen, Fesselungserotik und Samuraigeschichten. Mit ihrer Mischung aus bodenständiger Psychologie und Endzeitvisionen ist die japanische Mangamania längst in Deutschland angekommen. An einer historischen Aufarbeitung der Comics fehlt es bislang

von MARTIN ZEYN

Die deutsche Comicverlagslandschaft wandelt sich gravierend. Die vier großen Häuser Carlsen, Dino, Ehapa und Panini etablieren große Mangastrecken, teilweise wurden eigene Abteilungen geschaffen. Bei Carlsen hat der Umsatz von Mangas den der anderen Sparten übertroffen, zu denen immerhin Longseller wie „Tim und Struppi“ oder „Spirou und Fantasio“ gehören. Bei Ehapa kommt zwar kein Titel nur ansatzweise an die 2,5 Millionen Erstauflage des neuen „Asterix“ heran, aber auch hier setzen die Lektoren darauf, mit Mangas andere, nicht seit Jahrzehnten franko-belgisch sozialisierte Käuferschichten zu gewinnen.

Japanische Comics gibt es seit fast zwanzig Jahren in Deutschland, allerdings verlief die jeweilige Konjunktur unter verschiedenen Vorzeichen. 1982 erschien bei Rowohlt – neben Comics, die die chinesische Kulturrevolution verherrlichten – „Barfuß durch Hiroshima“, in dem Keiji Nakazawa die (autobiografische) Geschichte eines Jungen erzählt, der den Atombombenabwurf auf Hiroshima überlebt hat. Nach dem Zeichentrickfilm „Akira“ (1991) versuchten mehrere Verlage, japanische Erwachsenencomics in Deutschland zu platzieren – mit eher durchschnittlichem Erfolg. Viele vollmundig angekündigte Reihen wurden rasch wieder eingestellt. Erst der Erfolg des Heftes „Sailor Moon“, von dem zeitweise 346.000 Stück alle vierzehn Tage verkauft wurden, etablierte das Genre am hiesigen Markt. Dieser Erfolg hatte zwei Väter: Zum einen lief gleichzeitig eine Serie im Fernsehen, zum anderen gelang es Ehapa, Mädchen als Leserinnen zu gewinnen – eine Zielgruppe, die bis dato kaum Comics kaufte.

Die körperliche Zurichtung der Figuren – untertassengroße Augen, eine Wespentaille und Beine, die drei Fünftel der Körpergröße ausmachen – mögen Pädagogen als Aufforderung zur Magersucht verstehen. Doch trotz dieser für europäische Augen ebenso banalen wie brutalen Ikonografie gibt es Platz für bodenständige Psychologie in dieser Schulhofwelt mit erster Verliebtheit, Tratsch und Zickereien. Abseits der Verlags- und Rezensentensuperlative – für Mangas „wird in Japan mehr Papier verbraucht als für die Produktion von Toilettenpapier“, so stand es jedenfalls im Spiegel –, erklärt sich der ungeheure Erfolg des Genres in Japan durch die genaue Ausrichtung auf Zielgruppen. Es gibt Mangas buchstäblich für alle und jeden, für Liebhaber der Fesselungserotik über Samuraigeschichten bis hin zu ökologischen Endzeitvisionen. Womit die Hefte weitaus größerer Teile der Bevölkerung erreichen als Comics in irgendeinem Teil der übrigen Welt.

Aber nicht alles wird unterschiedslos gekauft; in Japan gibt es durchaus eine kritische Leserschaft. So wurde der Klassiker „Astroboy“ (im Original „Eisenarm Atom“!) von Osamu Tezuka 1968 nach 17 Jahren Laufzeit in Japan eingestellt. Sein permanentes „Die Welt retten“ empfand die Leserschaft als unrealistisch. Vier Jahre zuvor war die gleichnamige, ebenfalls sehr erfolgreiche Fernsehserie angelaufen – übrigens die erste Zeichentrickfilmserie überhaupt. Eine kritische Rezeption fehlt in Deutschland nahezu. Immerhin gibt es mit Mangazone eine erste Fachpublikation; Ende Mai erscheint die dritte Ausgabe.

Wie kommt es zu den erstaunlichen Verkaufserfolgen in Deutschland, mal abgesehen von Marketinghype und Fernsehserien? Susanne Phillipps hat in ihrer Monografie „Tezuka Osamu“ (Iudicum Verlag, München 2000) auf die Inspirationsquellen hingewiesen: Hollywood- und Ufa-Filme der 30er-Jahre sowie Walt Disney. Mangas, die hierzulande unter dem Label incredible strange und Sushi-Pop angepriesen werden, sind vielleicht weniger fremd, als der erste Anschein es nahe legt. Der Synkretismus der japanischen Kultur ermöglicht eben auch den erleichterten Rücktransport – „Heidi“ ist dabei in gleichem Maße ein Buch von Johanna Spyri und eine Zeichentrickserie von Hayao Miyazaki. Kinder in Deutschland sind seit Jahrzehnten via Zeichentrick japanisiert.

Womit dem Manga voraussichtlich eine rosigere Zukunft bevorsteht als dem anderen Bilderexportgut: den Superhelden-Comics. In diesem Jahr hat Dino seine Batman- und Superman-Serien eingestellt. Es war der zweite gescheiterte Versuch, diese Americana einzudeutschen. Die Zukunft wird zeigen, ob die japanischen Kulleraugen dauerhafter die europäischen Langnasen für sich gewinnen können.