VI. Chemotherapie

Chemotherapie, denke ich, die gefürchtete Chemotherapie. Hatte ich mir nicht irgendwann geschworen, ich würde diese Prozedur nie mitmachen?

Nach nichts als dem Strohhalm greift der Ertrinkende. Ist Chemotherapie besser als einer dieser Kräutertees? Der Ruf dieser Therapie jedenfalls ist schlimm. Angst habe ich nicht nur vor den Nebenwirkungen, sondern besonders vor der Nadel, mit der man die Infusion in eine Ader bekommt. Da hat man also Krebs und fürchtet sich vor einer Nadel!

„Man bleibt immer Mensch“, sagt Dr. Stellmacher. „Hilft Chemotherapie überhaupt?“, will ich wissen. „Es ist das Einzige, was wir haben und was wissenschaftlich erwiesen ist.“

Besser erwiesen als zum Beispiel Misteltherapie? „Ist das eine mehr Voodoo als das andere?“, will mein älterer Sohn wissen. Die Heilungserfolge sind ähnlich groß oder gering. Warum gilt das eine als Spökenkiekerei, das andere nicht? „Wir betreiben hier EBM“, sagt Dr. Kohlrausch, evidence based medicine – medizinische Behandlung, die auf Beweisen beruht.“ Dieser Arzt ist noch sehr jung, so jung wie mein Sohn. Er geht mit kleinen Schritten den Gang entlang wie in eine lichte Zukunft. Er hat nichts vom leidenden Blick Frau Dr. Dinkelbiers – oder noch nicht.

Die erste Chemotherapie stecke ich weg wie Aspirin. Nach der zweiten wundere ich mich, woher diese Schwäche und diese Appetitlosigkeit kommen. Ich habe Mühe, aufzustehen. Mir schmeckt kaum etwas, ich habe am meisten Lust, im Bett oder auf dem Sofa zu liegen und zu lesen, bestenfalls. Jede weitere Chemotherapie wird schlechter vertragen, heißt es, jede weitere führt mich durch ein Tal, und jeder Aufstieg dauert immer länger.

Man fühlt sich wie jemand, der Jetlag, Kater, Grippe und die Morgenübelkeit einer Schwangeren in einem hat. Das klingt witzig, ist es aber nicht.

Erstmals verstehe ich Leute, die eine Chemotherapie abbrechen. Ich habe in der Klinik Patienten gesehen, denen der Giftcocktail, weil ihnen die Kanüle nicht richtig gesetzt worden war, die Haut schwer verätzt hat. Chemotherapie macht ihrem Ruf, die Krankheit zu sein, für deren Therapie sie gehalten wird, alle Ehre. Mir hat sie bislang nur eine Vene zerstört. Hatte ich bisher durch den Krebs kaum Beschwerden – jetzt habe ich sie. Sie kauft mir jeden Schneid ab.

Erstmals fühle ich mich krank. Lustlos. Meine Frau fragt mich manchmal kopfschüttelnd: „Hast du überhaupt Lust, zu leben?“ Ich wünschte, ich könnte die Frage beantworten – am besten mit einem überzeugenden Ja. Ich weiß selbst nicht mehr, ob ich Lebenslust habe. Wäre es nicht besser, ich liefe nachts davon, würde unter eine große Schneeverwehung kriechen, wie sie das Voralpenland bis zum April bedecken, würde erfrieren? Meine Frau müsste sich um mich nicht mehr kümmern. Doch der Schnee würde tauen. Was dann?

Hätte ich diese Chemotherapie wirklich anfangen sollen? Wäre es nicht besser gewesen, nach Washington zurückzufahren? Ich liege auf dem Sofa und grüble. Inzwischen hätte ich viel geschrieben, wäre den Mississippi hinuntergereist, hätte in Mittelamerika Urlaub gemacht. Ich hatte mir, als ich voriges Jahr in Miami war, vorgenommen, Spanisch zu lernen. Das wäre doch hohe Lebensqualität gewesen, oder?

Eine Milchmädchenrechnung, ich weiß es. Erstens hätte ich von der Krankheit gewusst, denn sie ist diagnostiziert worden. Zweitens hätte ich Beschwerden bekommen. Der Krebs hat im letzten Jahr immerhin schon dreimal aufgemuckt. Mir hat die rechte Brusthälfte wehgetan, dann habe ihn mich in Florida sehr seltsam erkältet, und schließlich hatte ich um Weihnachten Schmerzen in Brust und Rücken.

Jetzt, da ich die Schmerzen kenne, ahne ich auch, dass ich den Krebs schon eine ganze Weile habe. Auf einem Spaziergang in Kalifornien – meine beiden Jungen waren gerade zu Besuch – waren wir in einen Wespenschwarm geraten. Dreizehnmal bin ich gestochen worden. Glück im Unglück, hatte ich gedacht, vielleicht gehen davon die Schulterschmerzen weg.

Schmerzen in der rechten Schulter? Und das, nachdem ich drei Wochen nicht am Computer unter Zeitdruck geschrieben hatte? Woher hatte ich die Beschwerden bloß, deren Ähnlichkeit mit dem, was ich um Weihnachten fühlte, jetzt unverkennbar war? Die Schmerzen gingen nicht weg.

Im November noch war ich mit dem Fahrrad mehrfach zu Rundfunkaufnahmen von Bethesda nach Georgetown in gestrecktem Galopp am Potomac entlanggehetzt. Der Weg ist unbeschreiblich schön. Das Sonnenlicht fällt wie zerstoßenes Glas durch die Blätter, nahe der Stadt öffnet sich der Blick auf den glitzernden Fluss und die Skyline von Washington. Ich musste anhalten, um die ganze Schönheit in Ruhe genießen zu können. Der Weg dauert allerdings ungefähr eine Stunde.

Kollegen hatten gestaunt, dass ich solch weite Strecken mit dem Rad fahre. Ich hingegen musste mir eingestehen, auf dem Rückweg manchmal sehr müde geworden zu sein und dass ich nicht nur wegen der Schönheit angehalten hatte, sondern auf dem höchsten Punkt der Tour erschöpft Rast machen musste. Vielleicht brauche ich doch einen neuen Sattel, hatte ich gedacht.

Ich hätte also in Washington sehr schnell Beschwerden bekommen und wäre zum Arzt gegangen, nachdem ich den Besuch ein oder zwei Wochen aufgeschoben hätte. Dann hätte mich die Diagnose eben dort ereilt. Was hätte ich dann gemacht?

Jetzt, da ich diesen Bericht schreibe, habe ich das Gefühl, dass die Therapie anschlägt. Die Metastasen gehen zurück, und der Haupttumor wird kleiner. Mir kommen die Tränen, als ich dies erfahre. Von der Chemotherapie werden idealerweise sechs Runden gemacht. Dann ist der Krebs „in Remis“, um die Hälfte kleiner geworden.

Ich gehe natürlich davon aus, dass ich sechs Runden mache, und was später kommt, das liegt in weiter Ferne. Ich beginne, Pläne zu schmieden. Bis zum Frühsommer werde ich an die Klinik gebunden sein. Danach suchen wir uns eine Bleibe, dann fahre ich nach Amerika. Ich wollte mit den Jungen doch noch mal den Grand Canyon hinabfahren. Der Mensch denkt, Gott lenkt.

Und doch kam es anders. Ich habe die Chemotherapie abgebrochen. Der Krebs hat sich ihr gegenüber als resistent erwiesen. Nach anfänglichem Rückzug kam er wieder, bevor er „in Remis“ war. Sechs Wochen wird man nichts machen, damit der Körper sich erholen kann.

Eigentlich bin ich froh, denn die Chemotherapie hat mich beinahe umgebracht. Jetzt bin ich frei. Ich kann gehen, wohin ich will. Mache ich wieder eine Chemotherapie? Ich weiß es nicht.