VII. Heiler und Scharlatane

Man soll sich seinen Krebs vorstellen und Bilder von ihm machen, sagt Carl Simonton. Dreimal am Tag soll man „visualisieren“. Man soll sich auch vorstellen, wie die Helferzellen, die T-Zellen und die so genannten Killerzellen ihn zerstören, soll sich vorstellen, wie die Chemikalien der Chemotherapie gutes Zeug sind und über den Krebs, den man sich als schwach und desorganisiert vorstellen muss, herfallen.

Passend zu diesen Tipps sind in seinen Büchern Entspannungs- und Meditationsübungen angegeben. Wie man über seinen Krebs denkt, sei nicht gleichgültig, sagt Simonton. Darüber kann man zwei Bücher schreiben!? Ich staune. Und bin misstrauisch.

Trauen kann ich auch Lawrence LeShan nicht. Der meint, dass jeder Krebs von unterdrückter Kreativität herrühre. Simonton und Lawrence LeShan wundert nicht, dass viele Männer am Montagvormittag an einem Herzinfarkt sterben. Krasser könne der Körper auf Unzufriedenheit im Beruf nicht reagieren.

In dieser Perspektive finde ich mich nicht wieder. Ich war mit meinem Beruf nicht unzufrieden. „Wenn Ihnen Ihr Beruf nicht passt, dann sollten sie entweder den Beruf oder die Einstellung dazu ändern“, sagt Carl Simonton. „Was, wenn einem Spaß machte, was man jeden Tag tat?“, frage ich ihn. Der überlegt kurz. „Dann ist Arbeit offensichtlich nicht ihr Problem“, antwortet er zum Gelächter der Anwesenden.

Ich bin in den ersten drei Monaten meiner Krankheit zu zehn Ärzten gegangen. Ich war bei einem Arzt, der das Pendeln erlernt hatte. Er hat einen Blutstropfen von mir auf einen Kaffeefilter – einen aus recyceltem Papier, versteht sich – aufgefangen und neben irgendwelchen Salzen auf einen hüfthohen runden Holztisch gelegt. Er holte ein Pendel hervor und zeigte mir, dass es ausschlägt. Er sagte mir, was ich schon wusste: dass ich Lungenkrebs habe und dass der Tumor weiterwächst.

Die Methode hat er bei einem gewissen Paul Schweitzer gelernt, der aber kein Arzt ist, wie ich später im Internet feststelle. Der Mann hat seine Frau durch Krebs verloren, sagt meine Mutter, er hat der Schulmedizin den Kampf angesagt. Er will an einem Wochenende alles auspendeln und mir zwei Kombinationen aus Salzen geben. Eine, die ich in die Tasche stecken soll als „Inhibitor“ (soll Strahlen verhindern), eine zum Schlucken. Er sagt auch, er könne dem Blutstropfen nach Jahren noch ansehen, wie es seinem Besitzer geht, auch wenn der weit weg lebt. Und wenn der tot ist, sagt ihm sein Pendel das auch.

Wie er mit dem Pendel vor dem runden Tisch steht, sieht er aus wie jemand, der seinen Penis hervorgeholt hat. Ich frage mich, was ich von einem Arzt habe, der sich ein Wochenende mit Salzen statt eine Stunde mit mir hinsetzen will. Drohend sagt er noch, dass die angefangene Chemotherapie die Metastase im Hirn nicht erreicht, da sei die Bluthirnschranke vor. Sehr charmant.

Mein Bruder fleht mich geradezu an, vor der Chemotherapie mit Dr. Ortner aus München zu reden. Ich verschiebe also die Therapie um einen Tag und fahre mit meiner Frau zu diesem Arzt nach München. „Es stirbt sich ohne Chemotherapie besser“, sagt der. „Bei einer Lungenentzündung dämmert man so vor sich hin.“ Charmant auch dieser Mann.

„Sehen Sie, es ist wie mit der Kuh“, sagt er. „Der Bauer, der sie am Nasenring in den Stall ziehen will, der wird keinen Erfolg haben, denn die Kuh rennt vor dem Schmerz davon. Wenn der Bauer die Kuh aber am Schwanz zieht, dann rennt sie vor diesem Schmerz davon und in den Stall hinein.“ Das soll ich auf den Krebs angewandt verstehen. Er hat ein Mantra für mich bereit, das er auf einen Rezeptblock schreibt: „Mein Wünschen hat keinen Effekt auf die Realität.“ Und: „Es ist geradezu absurd, mir mein Leiden wegzuwünschen.“ Diese Mantras soll ich mir, sooft es geht, vorsprechen.

Das kommt mir wie die Verkehrung der Therapie der Amerikaner vor, die einem gesunde Gedanken empfehlen. Ich bastle mir die beiden Mantras ohne Fremdwörter zurecht: „Mein Wünschen hat keinen Einfluss auf die Wirklichkeit“, sage ich mir anfänglich mehrfach am Tag. Außerdem soll ich die Luft anhalten. Immer länger. Das soll meine Lungen stärken.

Das leuchtet mir nicht ein. Yoga geht vom Atmen aus, ebenso wie alle asiatischen Körperübungen. Als Schnorchler weiß ich, dass man seine Lungen vor dem Tauchen durch tiefes Atmen stärkt, nicht durch Luftanhalten. Außerdem soll ich ganz ohne tierische Produkte leben, also weder Milch noch Käse noch Eier oder gar Fleisch essen. Die Fachärzte sagen, man solle in erster Linie nicht an Gewicht verlieren.

Dr. Ortner meint, ich solle vor allem rauskriegen, was ich selber will. Ins Kloster gehen beispielsweise. Ich frage ihn, ob er eines kennt. Ja, in Mexiko soll es ein Kloster geben, das Krebspatienten aufnimmt. Ich sehe schon Mexiko, die Wüste, die Kakteen, die heiße Sonne; dort muss es wie in Arizona sein. Eine Suche im Internet ergibt zu „Mexico“ und „monastary“ und „cancer“ nichts. Dr. Ortner schlägt das Kloster Ettal im Oberbayerischen vor.

Ein Star auf der Bühne: Carl Simonton, der Psychoonkologe aus den USA, tritt vor fast fünfhundert Leuten am Freitagabend auf. Sein Seminar hält er am Samstag und Sonntag vor mehr als 120 Leuten. Alles, was er sagt, wird übersetzt. Der Mann zelebriert sich, erzählt viel von sich und seiner Familie – aber wenig von seinen Patienten.

Ich frage ihn, ob es „Deals“ mit dem Krebs gibt. Mir hat der Krebs doch kaum was getan. Kann ich zum Krebs nicht sagen: Lass mich in Ruhe, dann lass ich dich in Ruhe? Simonton sagt, er habe Erfahrung mit derartigen Deals. Manche machten das so. Wenn man sie später operiere, dann seien die Krebsgeschwüre in sich sehr abgeschlossen und hätten keine Verzweigungen.

Ich hätte ihn sofort nach den entsprechenden Krankengeschichten fragen sollen. Der Krebs sei aber aus einem bestimmten Grund da, fährt Simonton fort. Also müsse man was gegen ihn unternehmen. Die Zuhörer, alles Krebspatienten oder deren Angehörige, lachen und fragen nicht nach. Skepsis ist hier offenbar nicht angebracht. Der Mann ist mir unsympathisch. Er benimmt sich wie ein Guru. Doch egal, er hat vielleicht etwas, wovon man lernen kann.

Pläne soll man machen, hatte ich schon in einem seiner Bücher gelesen, Dreimonats-, Halbjahres- und Jahrespläne. Unter den Zielen der ersten drei Monate zähle ich auf, dass ich aus dem Haus meiner Mutter ausziehen möchte. Und das, was ich noch alles lesen und schreiben will. Ich will Ordnung in meinen Tagesablauf bringen. Auch eine andere Empfehlung nehme ich an, jene, mich täglich anzustrengen. Unmittelbar nach der Therapie fällt mir das zwar schwer. In den Wochen der Erholung gehe ich aber viel spazieren, laufe Berge hinauf und überlege, ob ich mir mein Rad aus den USA kommen lassen soll.

Dann sagt Simonton, man solle Dinge aufschreiben, die einem besondere Freude machen und dem eigenen Leben einen besonderen Sinn geben. Das fällt mir wirklich nicht schwer. Wir sollen Gruppen bilden und vierzig Sachen überlegen, woran wir Freunde haben – und dann sollen wir sehen, dass wir jeden Tag eine Stunde Spaß haben, sogar im Urlaub. Gelächter der Anwesenden.

Mir fallen mehr als vierzig Dinge ein, die mir Freude bereiten: wandern, schwimmen in Flüssen und Seen, Rad fahren, klettern, reiten, angeln, tauchen, trommeln, Klavier spielen, in kleinen Flugzeugen fliegen, Cinnamon Rolls in Kaffee tunken (amerikanisches Zimtgebäck in amerikanischen Kaffee, versteht sich), überhaupt essen, ins Café gehen (wenn da nicht geraucht wird), kochen, reden, lesen, in die Ferne sehen, Zug fahren, mich streiten, Leute schockieren, eine andere als die gängige Meinung einnehmen, mich unterhalten, ins Kino gehen, ins Theater gehen, in Ausstellungen gehen und Besucher beobachten, U-Bahn fahren und Fahrgäste beobachten (vor allem in Washington und New York), flanieren, auf Märkte gehen, sehen, wie sich Licht wandelt – vom Morgen bis zum Abend, Sterne gucken, im Morgengrauen Kanu oder Boot fahren, auf Empfänge gehen, mich in mehrsprachigen Gruppen aufhalten, traurige Musik hören (ich sauge aus einem Lied Traurigkeit, wie ein Wiesel Eier aussaugt, schreibt Shakespeare irgendwo), Feuer anmachen und ins Feuer gucken.

Habe ich schon vierzig Dinge genannt? Oder mehr? Weniger vielleicht? Irgendetwas davon soll mal jemand machen, der sich kotzelend nach einer Chemotherapie fühlt.