Ich habe Krebs

Am Anfang sind es Schmerzen in der Brust. Nichts Ernstes. Oder? Die Unpässlichkeit erweist sich als bösartiges Geschwür. Ein Bericht unseres USA-Korrespondenten

von PETER TAUTFEST

„Was Sie in der Brust haben, ist ein Tumor, der ist bösartig, und der hat auch leider schon gestreut.“ Wie aus dem Off hörte ich, wie meine Frau gedehnt „Was?“ sagt. Die Frage verklang wie ein in der Ferne davonfahrendes Auto. Mir wurde schwarz vor Augen – vielleicht eine Sekunde lang oder zwei.

Dr. Krajewski, der Stationsarzt mit fast jungenhaftem Gesicht, trägt kurze Haare. Unter seinem Kittel sah ein geblümtes Hemd hervor. Er machte gerade Visite, als ich Anfang dieses Jahres in die Gautinger Lungenklinik bei München kam.

„Ach ja“, hatte er gesagt, „der Herr Tautfest. Ich komme gleich zu Ihnen.“ Er kannte meinen Namen. War das ein gutes Zeichen oder ein böses? Ich setzte mich mit meiner Frau in den Aufenthaltsraum, in dem am Tag nach Neujahr sonst niemand war – und wartete. „The patient must be patient“, sagte ich zu ihr. Für „Patient“ und „geduldig“ benutzt das Englische dasselbe Wort.

Dr. Krajewski gehört zu der neuen Generation von Ärzten, die es gelernt hat, Patienten die Wahrheit nicht zu verschweigen. Er spricht leidenschaftslos, direkt, schonungslos und ohne Umschweife. Ja, beinahe ein bisschen schnodderig.

Rückblickend kommt es mir vor, als hätte er wie von einem großen Spaß gesprochen, wie von einem jener unvermeidlichen Unglücke, die Menschen nun mal widerfahren und über die man gemeinsam scherzen können soll oder können muss.

Nicht zu diesem Ton jedoch passen Klagen oder Bedauern. Er hätte auch sagen können: „Ich will heute Nachmittag noch Squash spielen gehen und mir die Laune von Ihnen nicht verderben lassen.“

Was er gesagt hat, hat nicht einmal fünfzehn Sekunden gedauert, nicht so lange wie ein Erdbeben in Kalifornien oder Chile und kürzer als der Durchzug eines Tornados in Texas oder eines Hurrikans in Florida. Und doch hat es mein Leben und das meiner Familie für immer verändert – so gründlich wie das Leben eines Erdbeben- oder Sturmopfers.

Wäre ich in den USA zum Tode verurteilt worden, hätte ich nach allem, was man weiß, viel länger zu leben – im Schnitt zwölf Jahre. Fiele bei mir ein HIV-Test positiv aus, würde mir zu helfen sein, denn wer den richtigen Medikamentencocktail erhält, kann ein nahezu normales Leben leben. Bei einem Todesurteil oder einer HIV-Diagnose hätte ich wenigstens etwas getan, denke ich, ich aber habe doch nichts getan.

Dass ein Tumor, der gestreut hat, kaum heilbar ist, gehört zur Allgemeinbildung. Dass die Überlebenschancen beim gefürchteten so genannten Nichtkleinzelligen Bronchialkarzinom gering sind, sollte ich bald erfahren. „Er hat nie geraucht“, hörte ich meine Frau sagen. Als würde ihr Einwand etwas am Urteil des Arztes ändern. Und als hätte ich unverdient Schuld an der Krankheit.

Irgendetwas muss an meinem Krebs doch schuldig sein, denke ich und weiß zugleich, dass ich so unschuldig bin wie das Opfer einer Naturkatastrophe. Der Arzt erklärt geduldig, dass man den Lungenkrebs zwar zu 85 Prozent (nach manchen Zählungen sind es sogar 95 Prozent) vom Rauchen bekommt, dass die anderen Prozente sich aber auf Mitrauchen, Umweltgifte, Strahlenbelastung und unbekannte Ursachen verteilen.

„Vielleicht hat er mal eine Röntgenaufnahme zu viel gemacht“, schlägt der Arzt vor. „Viel geflogen ist er“, sagt meine Frau. Der Arzt winkt ab. „Krebs liegt oft in der genetischen Veranlagung. Wir wissen nicht, was sie aktiviert. Rauchen gehört sicherlich dazu.“

Ich war ganz freundlich gewesen, als der Arzt ins Wartezimmer kam. „Sie bringen mir das Urteil, nicht wahr?“, sagte ich. Ich wurde mir bewusst, dass ich wie jemand klang, der eine schlechte Botschaft durch gute Laune abwenden will. Um das Spiel des Arztes mitzuspielen, sagte ich, ich machte gerne meine Hausaufgaben und sähe im Internet nach, was es zu meiner Krankheit an Material gebe. In den USA sei ich oft mit einem Computerausdruck zu einem Arzt gegangen, der nichts anderes zu erwarten schien. Im Internet müsse doch ein Kraut gegen den Krebs zu finden sein. Sterben tut man heute am Mangel an Information, ich aber weiß, wie man sie einholt.

Der deutsche Arzt holte einen Kugelschreiber aus dem Kittel und schrieb auf ein Blatt Papier: „non-small cell lung cancer“. Er schrieb auch die Abkürzung daneben, NSCLC. Die Buchstaben haben etwas Magisches. Mitten in der Nacht wache ich auf und denke NSCLC. Wenn ich durch die Stadt gehe, denke ich NSCLC. Ich möchte auf Leute zugehen, vor allem auf junge Leute, die rauchen, und ihnen sagen: „Merkt euch die Buchstabenkombination NSCLC, ihr werdet sie eines Tages brauchen. Sie steht für „non-small cell lung cancer“, zu Deutsch: nichtkleinzelliger Lungenkrebs. Wer raucht, steigert die Wahrscheinlichkeit, ihn zu bekommen, um dreitausend Prozent, nicht um dreihundert. Er ist heimtückisch, der NSCLC, er macht keine Beschwerden, bevor es zu spät ist. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe ihn, den NSCLC.“

Ich sehe mich schon als Beschwörer von geheimen Buchstaben hustend und einsam durch die Straßen gehen, zum Gespött der Leute, vor allem der jungen. Neun von zehn von ihnen werden an etwas anderem sterben, nur einer wird vielleicht, wenn er Lungenkrebs bekommt, an mich denken, und denken wird er: „Der hat nie geraucht, ich habe geraucht, also kriegt man den Lungenkrebs, egal was man tut.“

„Ich habe kaum Symptome“, sage ich dem Arzt. „Was hindert mich daran, weiter zu leben wie bisher? Wer weiß, vielleicht werde ich achtzig.“ – „Achtzig werden Sie bestimmt nicht“, sagt der Arzt. „Vielleicht geht es Ihnen ein paar Monate gut, dann bekommen Sie eine Lungenentzündung, weil die Lunge nicht mehr richtig belüftet wird, vielleicht sind Sie eines Tages gelähmt, weil Sie schon Metastasen im Kopf haben“ (habe ich, wie ich später erfahren sollte).

Einen Satz erinnere ich aus dem ersten Gespräch mit dem Arzt genau: „Vier Monate sind schon viel bei dieser Krankheit.“ Vielleicht hat er etwas über die Chemotherapie gesagt, der es gelingen könnte, die Krankheit um vier Monate zu verzögern. Jetzt lebe ich in der Tat schon mehr als vier Monate mit der Diagnose. Vielleicht verdanke ich diese Zeit der Therapie.

„Ich habe einen Termin bei unserem Onkologen für Sie gemacht“, sagt Dr. Krajewski, als wollte er das Ende des Gesprächs und seiner Zuständigkeit signalisieren, „der kann mit Ihnen besprechen, was es für Therapiemöglichkeiten gibt.“ Onkologe – zum ersten Mal höre ich dieses Wort bewusst und kann mir darunter etwas vorstellen. Ja, einen Onkologen möchte ich sprechen, denke ich, als könnte er Licht in die Sache bringen, das Missverständnis aufklären, neue Türen öffnen.

Ich will nach Hause. Nicht bald. Sondern jetzt. Um keinen Preis möchte ich in dieser Klinik bleiben.