Befreite Sounddateien

Die Galerie Wieland verschafft der armen B-Seite einen großen Ausstellungsauftritt: „Songs of Love and Hate: side B“

B-Seiten haben es nicht leicht: Auf einer CD-Single gibt es sie technisch gar nicht mehr; und die Lieder, die nach dem Radio Mix und dem Monster Club Edit an dritter Stelle auf die Maxi gepresst sind, werden meist noch vor dem ersten Hören missachtet. Selten, dass jemand den B-Seiten viel Interesse schenkt und ihnen wie Jan Delay ein ganzes Lied widmet: „Eine kleine B-Seite, die wartete, dass man sie befreite. Sie wollte raus aus der Anonymität, sie wollte im Radio laufen von früh bis spät.“

Was Delay da so nölt und für die B-Seite erhofft, nämlich Aufmerksamkeit, ereilt sie in der Galerie Wieland: „Songs of Love and Hate: side B“ ist die B-Seite einer Ausstellung, die sich mit Musik auseinander setzt.

Allerdings droht dieser B-Seite wieder schicksalhafte Missachtung. Denn beim Betreten der Galerie hört man keine Lieder, weder von Hass noch von Liebe. Das Werk „Silent Recording Berliner Philharmonie 2000“, von Dave Allen auf CD gebrannt, spielt 31 Minuten lang die abwesenden Klänge der leeren Philharmonie ab. Bis auf ein Störgeräusch durch die Record-Taste am Anfang der Aufnahme erklingt nichts. Der leere Tonraum, den Allen eröffnet, muss durch Erinnerung an bereits Gehörtes oder durch laut gedachte Reflexion gefüllt werden.

So wie Allen den Gedanken an die Philharmonie als Raum für Musik hervorruft, gestaltete er auch die Wände der Galerie als Studio. Eine Tapete aus grauen Siebdrucken mit einem schwarzen Punktraster steht als reduzierte Repräsentation von gelochten Hartfaserplatten, wie sie in Tonstudios zur Schalldämmung verwendet werden.

Ebenfalls Raster und Punkte verwendet Diana Larrea, nur schafft sie damit keine Studioatmosphäre, sondern arbeitet sich an Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen ab. Auf 32 DIN-A 4-Blättern variiert und arrangiert sie ein grafisches Vokabular aus farbigen Klebepunkten, schraffierten Flächen und Umrandungen, auf einem Zentimeterraster, das sie selbst mit Filzstift gezogen hat.

Obwohl alle Blätter der „Variaciones Sobre Circuitos“ in ihrer Kleinteiligkeit zunächst ähnlich wirken, auch in ähnlichem Farbspektrum von Grau, Blau und Rot gehalten sind, finden sich Veränderungen: Eine Fläche wandert von links nach rechts oder erscheint drei Blätter weiter an ähnlicher Stelle dreigeteilt wieder. So schafft Larrea eine Interpretation der Notenschrift, die nicht direkt lesbar ist, aber das Spiel der Abwechslung und Wiederaufnahme in der Bach’schen Komposition nachvollzieht. Dabei überträgt die spanische Künstlerin mit klassischer Klavierausbildung das Musikstück, das nur in der Zeit wahrnehmbar ist, in die Fläche.

Einen ähnlichen Schritt vollzieht Jan Rohlf in einer Arbeit aus drei länglichen Hartfaserblöcken, die in glänzend blauen Fiat-Autolacken auf dem Boden liegen. Auf zwei Blöcken befindet sich ein vergrößerte, durchgepauste Sounddatei, die als Relief ausgearbeitet wurde: Die Frequenzen der Töne zweier Songs von The Cure und Tuxedomoon ragen in Wellen nach oben und unten. So sieht man auf einen Blick das ganze Stück, erkennt die Struktur, nur das Feeling bleibt aus. Der dritte Block gibt als 3 D-Pixelschrift den Titel der Arbeit wieder: „That Great Definite Feel“. Seine eigenen großen Gefühle ließen Rohlfs die Lieder „Kyoto Song“ und „In the Name of Talent“ auswählen, weil sie ihn beim Älterwerden begleitet haben. Identifikation mit dem Song hilft eben bei der Identitätsfindung, der gewöhnliche Teenie würde sich vermutlich ein Bravo-Poster aufhängen. Rohlf dagegen abstrahiert vom visuellen Image der Lieblingsbands und bietet die mathematische Struktur für den emotionalen Zugang an. Was natürlich nicht so richtig funktioniert, aber an der Wand sehr gut aussehen würde.

Damit bildet Rohlf den Übergang zur A-Seite der Ausstellung, denn die Künstler im ersten Teil folgten direkt ihrer persönlichen Pop-Geschichte und präsentierten z. B. ein Archiv mit Mixtapes von Freunden oder Status Quo als Ikonen im vergoldeten Rahmen. So ist dann auch klar, warum die A-Seite meistens der Hit ist, der Ausbruch aus B-Seiten-Anonymität braucht eben leistungswillige Hörer.

DANIEL BOESE

Bis 16. 6., Mi–Fr 14–19 Uhr, Sa 11–17 Uhr, Galerie Wieland, Ackerstraße 5