„Schöne Jacke, gute Jacke!“

Schluss mit der Scham, der Junge ist gewachsen und braucht neue Sommerkleidung. Los, auf in die Kleiderkammer der Wohlfahrt! Dorthin, wo Armut nach Mottengift riecht

von CORNELIA KURTH

Es verschlägt einem den Atem, wenn man das Gebäude betritt, dessen kahler Flur auf eine geöffnete Tür zuführt. Es ist die Tür zur Kleiderkammer des Deutschen Rotes Kreuzes des kleinen Städtchens. Mottengiftgeruch liegt in der Luft. Nichts wie raus hier!

Aber der Junge ist gewachsen, die Sonne scheint wieder, er braucht T-Shirts und kurze Hosen, und da hinten am Ende des Ganges ist die Kleiderkammer, die, so heißt es doch, gegen eine geringe Gebühr gebrauchte Kleidungsstücke herausgibt. An Bedürftige.

Vor der geöffneten Tür stehen ein älteres Ehepaar und ein dunkellockiger Mann um die fünfzig. Sie gehen nicht in den Raum hinein, ein Tisch versperrt den Zugang. Hinter dem Tisch steht eine Mitarbeiterin vom DRK und reicht dem Ehepaar gerade eine weiße Jacke herüber: „Schöne Jacke, gute Jacke!“, sagt die Mitarbeiterin. Lustige Volksmusik dringt gedämpft durch eine geschlossene Tür im Gang.

Der dunkellockige Mann steht etwas abseits und guckt auf den Fußboden, um nicht das Ehepaar beobachten zu müssen, wie die Frau die Jacke zögernd entgegennimmt, ihrem Mann an die Schultern hält, etwas Russisches flüstert und ihm dann umständlich in die Jacke hilft. Sie sieht blöd aus, diese Jacke, und außerdem ist sie zu klein.

Die Frau stützt sich auf den Absperrtisch und versucht, um die Ecke zu lugen, wo die Kleiderständer stehen. Die Mitarbeiterin legt die weiße Jacke klaglos zu den vielen anderen Jacken, die schon zurückgewiesen auf dem Absperrtischchen liegen, und bringt jetzt eine dunkle Hose. Schwer zu sagen, ob sie dem Mann passen könnte, aber vielleicht haben die beiden schon Übung im Hosenanpassen durch den Augenschein. „Fünf Mark“, sagt die Mitarbeiterin. Fünf Mark zahlt das russlanddeutsche Paar nach einigem Flüstern und steckt die Hose in eine mitgebrachte Plastiktüte. Wird schon passen.

Die Eingangstür klappt. Ob jemand Bekanntes kommt? Raus hier, raus!

Der dunkellockige Mann ist dran. Er ist klein. Sein abgeschabter, ehemals flotter Blouson und die abgeschabte, aber gut sitzende Hose und die abgeschabten spitzen Schuhe, sie zeigen, dass er gerne gut aussehen würde. Die Mitarbeiterin verschwindet aus dem Blickfeld und kommt zurück mit einer hellblauen Sportjacke, einer hellbraunen Kunstlederjacke und einer beigen Wetterjacke. „Die ist zu eng“, sagt sie, als der Mann sein Blouson auszieht und die beige Wetterjacke anprobiert. Ob es ihm etwas ausmacht, dass eine wartende Frau hinter ihm steht und sieht, wie sehr die Jacke kneift?

Mit der Zeit vergisst man den Mottengiftgeruch. Man vergisst, warum man eigentlich hier ist. Wenn man nicht längst geflohen ist, dann steht man nur noch gedankenlos herum und sieht einem kleinen, dunkellockigen Mann zu, der jetzt eine dicke, lange Lederjacke begutachtet. Beinah hätte er sie angezogen, aber: „Die kostet fünfzehn Mark, echtes Leder!“ Da gibt er sie zurück und nimmt stattdessen eine karierte Anzugjacke entgegen. Man müsste ihm sagen, dass sie über dem Hintern spannt, aber dann müsste er die Frau in seinem Rücken wahrnehmen und er würde vielleicht auf der Stelle tot umfallen.

Fünf Mark die karierte Anzugjacke und fünf Mark auch die Hose – wenn schon, dann beides. Die Hose ist ein bisschen zu lang und garantiert zu eng und genau so kariert wie die Jacke. Wenn es einen Spiegel gäbe, dann wäre dieser Spiegel sinnlos, denn ohne Umkleidekabine probiert hier niemand eine Hose an, am Absperrtisch im kahlen Flur vor der Kleiderkammer. Selbst wenn es einen Spiegel gäbe: Wer würde sich vor diesem Spiegel drehen mit einer karierten Anzugjacke, sich drehen und dabei im Augenwinkel die anderen Bedürftigen sehen, die zusehen, wie man sich in einer karierten Anzugsjacke dreht? (Kommt jemand Neues? Nein, zum Glück nicht!)

Der Anzug wird gekauft und dazu ein recht hübsches Mädchenkleid. Die Kinderstrümpfe allerdings, die die geduldige Mitarbeiterin schließlich bringt, drei Stück zur Auswahl, grün, rot gestreift und weißlich, die kommen nicht in Frage. „Plastiktüten liegen da hinten.“ Der Mann geht mit gesenktem Blick.

T-Shirts, ich, äh, mein Sohn, also, er braucht T-Shirts, so Größe 132.“ Die Mitarbeiterin guckt besorgt: „Tja . . .“, und geht zu einem Regal, außerhalb des Blickfeldes. Ob man diesen Tisch ein bisschen . . .? „T-Shirts sind schlecht“, kommt die Mitarbeiterin schon zurück. T-Shirts sind wirklich schlecht! Eines mit aufgedruckten Blumen trägt das Preisschild eines Secondhandladens, vier Mark. Wollte niemand kaufen. „Und kurze Hosen?“ Kurze Hosen sind gar nicht da. „Vielleicht Mittwoch.“ Die Mitarbeiterin zeigt ein ausgeblichenes gelbes Polohemd: „Nein? Das wollen Sie nicht?“ Nein!

Im Regal direkt neben der Tür der Kleiderkammer stehen Kartons mit dem Namen des Nachbarorts. Da soll es auch eine Kleiderkammer geben. Eine, in die man hineingehen kann wie in einen kleinen Laden. Wo man selbst guckt und alle Teile mit drei Mark bezahlt. Wie in einem kleinen Laden. Hier – nichts wie raus!

Als dieser Artikel kürzlich im Lokalteil der kleinen Stadt erschien, erreichten nicht nur Leserbriefe erboster Mitarbeiterinnen die Redaktion, sondern auch eine Note des DRK-Vorsitzenden: Aufgrund des Artikels werde die Kleiderkammer in anderen Räumlichkeiten neu eröffnet – mit Umkleidekabine, Spiegel und Stöbermöglicheit.

CORNELIA KURTH, 40, lebt als freie Autorin in Rinteln. Gerade erschien bei Rowohlt ihr Roman „Ein Jahr mit 90 Tagen“ (Reinbek 2001, 155 Seiten, 12,90 Mark). Es ist die lange Fassung der Erzählung „. . . kein bisschen Dankbarkeit“ (taz.mag vom 21. Oktober 2000)