Mutige Mondsucht in Australien

Ethnofilm kann auch Pop sein: Auf dem sechsten EthnoFilmfest in Dahlem tritt die Gegenwart in tausendfacher Gestalt auf. Ohne Bildungsauftrag, ohne postkolonialen Blick, ohne Gewissheiten, mit schönen, neu gefundenen Identitäten

Es ist kein Zufall, dass es ausgerechnet der ethnografische Film war, der die formale Sprache des Dokumentarfilms definierte. Die Kamera war als Werkzeug wie geschaffen für die Wissenschaft vom Fremden, weil sie scheinbar nur registrierte, nicht produzierte. Dokumentation als Prozess der Eingemeindung des noch Unbenannten in das eigene Denkuniversum: beschreiben, definieren, vorführen. Die Erzeugung von Objektivität. Denn auf dem Film nicht zu sehen war der Arrangeur hinter der Kamera. Wenn heute irgendetwas als „Ethno“ etikettiert wird, dann meist immer noch als verkaufsfördernder Code für vermeintliche Traditionalität. Das vorgestern eröffnete 6. EthnoFilmfest muss mit diesem Bedeutungsfeld leben und tut das, indem es auf erfrischende Weise an seiner Öffnung arbeitet.

Das betrifft zunächst die Perspektive: Filmemacher aus 40 Ländern präsentieren in 120 Filmen ihre eigenen Kulturen und erzeugen genau die heterogene Stimmenvielfalt, die die klassische Völkerkunde in Schach zu halten suchte. Das betrifft aber auch den Genremix aus Dokumentar-, Spiel- und Experimentalfilmen. „Invocación“ von Héctor Faver hebt diese Abgrenzungen ganz auf und konstruiert ein dichtes Geflecht aus Erinnerungen und Erfindungen, bei dem es dennoch um Wahrheit geht: 30.000 Menschen verschwanden während der argentinischen Militärdiktatur und hörten offiziell auf zu existieren. Die Mächtigen schreiben Geschichte, aber man kann andere Geschichten erzählen, mit anderen Mitteln.

Um Zerstörung und Rekonstruktion von Identitäten geht es auch in vielen Filmen der australischen Aborigines, einem Schwerpunkt des Festivals. „Stolen Generation“ von Darlene Johnson vollzieht nach, wie das weiße Australien versuchte, die einheimischen Völker durch rassische und später durch kulturelle Zwangsassimilation auszulöschen, und so den physischen Mord früherer Jahrhunderte im 20. Jahrhundert fortsetzte. Bis in die Siebzigerjahre hinein wurden Kinder legal aus ihren Elternhäusern gerissen und in staatlichen Institutionen oder weißen Famlien großgezogen. Ihre Identität wurde entsprechend der offiziellen rassistischen Ideologie neu definiert.

Einer der schönsten Filme des Festivals ist Rachel Perkins’ sparsam erzähltes Musical „One Night the Wind“: Ein mondsüchtiges Mädchen, das noch nicht gelernt hat, sich vor Dunkelheit zu fürchten, wird zum Opfer der rassistischen Sturheit seines Vaters. Weiße und schwarze Australier singen zusammen und doch gegeneinander. Am Ende werden Gewissheiten zerstört, ein weißer Mann nimmt sein Gewehr und geht.

Dass ein Blick von außen nicht zwangsläufig kolonisierend sein muss, zeigt „Pierre Fatumbi Verger – Messenger Between Two Worlds“, ein Film von Luiz Buarque de Hollanda über die afrobrasilianische Religion des Candomblé und einen Mann, der eigentlich der Prototyp des europäischen Ethnografen war: Als junger Mann verließ Pierre Verger das Europa der Dreißigerjahre und wurde zum Weltreisenden mit Fotoapparat. Aber Verger war anders. Nicht die Faszination des Fremden trieb ihn an, sondern die Suche des Individuums nach einer neuen Heimat. Er blieb in Salvador de Bahia und wurde zu einem Insider afrobrasilianischer Kultur, weil er bereit war, sein Wissen nicht in Macht zu verwandeln. Der Film begleitet einen anderen großen Verknüpfer kultureller Welten, den Musiker Gilberto Gil, auf den Spuren Vergers.

Die Geschichte der Gegenwart lässt sich also tausendfach erzählen. Damit fällt auch der Bildungsauftrag weg, der sich direkt aus der Idee der Dokumentation von Fremdheit ergab. Stattdessen gibt es jede Menge gute Unterhaltung und die Erkenntnis: Ethnofilm kann auch Pop sein. Wie wäre es zum Beispiel mit einer ghanaischen B-Horror-Soap über Hexerei unter den Bedingungen postkolonialer Mafia-Ökonomie?

KARSTEN KREDEL

Täglich bis zum 17. Juni, Filmbühne Museum, Lansstr. 8, Programm und Informationen unter 8 30 14 38 oder www.ethnofilmfest.de