Berlin ist aufgewühlt

Für einen Neuanfang bedarf es städtischer Brunnen und kerniger Vollblutpolitiker

Landowsky, Lummer, Wohlrabe, Radunski, Schönbohm – das sind Helden wie sie

Was haben die Berlinerinnen und Berliner heute – von Kaffeedurscht und notorisch schlechter Laune mal abgesehen? Mächtige Wut, bzw. ohnmächtige Wut. Außerdem die Nase jestrichen vollund keinen Bock, sich länger verarschen zu lassen. Sie kriegen ’nen Anfall, ’nen Koller bzw. das Kotzen und – sind die letzten Brocken rausgereihert – „unbändige Lust auf einen Neuanfang“. Und was hätten die Berlinerinnen und Berliner heute gern? Landowsky in Handschellen gesehen bzw. nur ein Jahr lang Landowskys Knete bzw. in ihrer Funktion als geringfügig beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „auch mal die Möglichkeit, so viel Scheiße zu bauen wie der“.

Niemand rafft so rasch wie die Berlinerinnen und Berliner, welche Pose angesagt ist. Ob Durchfahrt durchs Brandenburger Tor, Love Parade, Kampfhunde, Mauerfall – sie sind auf Hundertachtzig. Wenn sie eins begriffen haben im Kalten Krieg, und zwar auf beiden Seiten, dann, dass sie eine Rolle zu spielen haben, wenn sie schon keine Rolle spielen.

Im Antäuschen sind sie versiert, die Berlinerinnen und Berliner. Sie machen dir aus dem Stand heraus die Rosinenbomber-Nummer: Wenn wir nicht augenblicklich mit Kaffee und Schokolade zugeschissen werden, sind wir für die freie Welt dauerhaft verloren. Wenn der Vorschlag eines CDU-Hinterbänklers aus dem Taunus, ein Berliner Notopfer zu erpressen, nicht von Diepgen arrogant wechjeschmunzelt worden wäre, würden die Berlinerinnen und Berliner heute auf dem Alex stehen und nach Pommes schreien. Und nach Wasser: Stumm deuten sie auf die versiegten städtischen Brunnen und verdrücken eine Träne, um das Feuchtigkeitsdefizit auszugleichen.

Großartig sind sie auch in der Charge, „Berlin ist eine dufte (bzw. geile) Stadt“, die „spannendste“ der westlichen Hemisphäre. Mit diesem Act beliefern sie über Monate alle Weltempfänger. Richtig gut, sozusagen authentisch, sind sie auch im „Berlin bleibt doch Berlin“-Gestammel und in kollektiver Ergriffenheit, wenn die Freiheitsglocke bimmelt.

Da ist nicht nichts dahinter, sondern gar nichts. Die Berlinerinnen und Berliner sind Komparsen in den wechselnden Kulissen ihres Potemkin’schen Dorfes – mal Belagerungsopfer, die ihre Knäckebrotreserve zählen, mal Schütze Arsch im antikommunistischen Stellungskrieg, mal Völkchen der Hippen und Ausjeflippten, mal Hauptstädter. Fällt die Formel „jetzt liegt es ganz in den Händen der Berlinerinnen und Berliner“ (Diepgen, Schröder, Gysi, Strieder, Rexrodt), wissen sie, dass sie mal wieder ran müssen. Wenn der Drehtag vorbei ist, gehen sie nach Hause und setzen sich auf den Balkon. Dann sind sie, was sie sind – devote, fichilante Sachsen und in der dritten Generation assimilierte Schwaben, die sich über die Mauer hinweg vor türkischen Großfamilien ekeln, vor Russen fürchten und Harald Juhnke die Daumen drücken, damit der wieder uff de Beene kommt.

Zwischen ihren öffentlichen Auftritten haben die Berlinerinnen und Berliner das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Dafür wählen sie sich einen Senat zusammen, vor dem es einigermaßen zivilisierte Bürgerschaften gruseln würde. Landowsky, Lummer, Wohlrabe, Radunski, Schönbohm – das sind Helden wie sie. Da lacht das Herz des sprichwörtlichen Berliner Taxifahrers. Fies, abgebrüht, maulfurzig und ausgestattet mit dem Humor eines Kampfhundes – so lieben die Berlinerinnen und Berliner ihre Politiker. An der zackigen Syntax rasch hochgekommener Kleinganoven schulen sie ihr Idiom, die so genannte Berliner Schnauze. Ein Dutzend Jahre lang haben sie den Rüdiger wohlgefällig am Werke gesehen, wie er rüpelnd, drohend, Süßholz raspelnd durch die Säle und durch die deutsche Sprache stolperte. Wo Ratten und Unrat ist, ist auch Gesindel – Ausländer, Obdachlose, Linke – nicht weit. Der Filz, den sie jetzt augenblicklich zerschlagen wollen, ist ihr Biotop, der Mief – das ist die Berliner Luft, Luft, Luft. Ihre Empörung ist nicht mehr als eine Gemütsaufwallung. Noch ist nicht eine Aule an die Fenster der Berliner Bankgesellschaft geflogen, und dort steht nicht einmal ein Polizist.

Keine Frage, wie sie sich rächen werden, die Berlinerinnen und Berliner: Sie wählen wieder eine große Koalition und hoffen, dass da ein paar kernige „Vollblutpolitiker“ dabei sein werden, wie ihr Lando einer war.

MATHIAS WEDEL