Aufbruch durch Selbstverstümmelung

Das Prinzip Ent-Täuschung: „Fight Club“ als Kampf besinnungsloser Nachwendekarrieristen im Theaterhaus Jena

Irgendwann an diesem Abend kippt die ohnehin brüchige Wahrnehmung endgültig in den Wahn. Dann spritzt unter der tiefer gelegten Deckenlampe plötzlich echtes Blut, treffen die Fäuste ungebremst auf die nackten Oberkörper, gehen die Verlierer in Echtzeit zu Boden. Und nach wenigen, schrecklich faszinierenden Augenblicken ertappt man sich selbst weit vorgebeugt auf der Stuhlkante, fasziniert und ohne Deckung angeschlagen von diesem beängstigend intensiven Theaterspiel.

Mit der Bearbeitung von Chuck Palahniuks Roman „Fight Club“ hat die Jenaer Theaterhaus-Chefin Claudia Bauer nach Gorkis „Nachtasyl“, Jan Jochymskis „www.kahlschlag.com“ undGesine Danckwarts „Täglich Brot“ der Saison unter dem Motto „Wege ins Paradies“ einen gelungenen Höhe- und Schlusspunkt beschert. Dabei war der Stoff spätestens seit seiner erfolgreichen Hollywood-Verfilmung auch im Theater virulent: Die Selbstverletzung als Aufbruch aus einer sinnlich betäubten Weltwahrnehmung konnte man seither unter anderem – unter anderen Vorzeichen – auch in erfolgreichen Experimenten wie Falk Richters „Nothing Hurts“ beobachten.

Dass ausgerechnet das junge Team in Jena nun das Original präsentiert, ist folgerichtig: Kein anderes Haus im Osten arbeitet derzeit derart konsequent an Gegenwartsrecherchen wie die Thüringer Bühne und ihre Koproduzenten vom Theater in der Fabrik (TiF) Dresden. Das künstlerische Risiko der Stückentwicklung zum „Fight Club“ ging nun ausschließlich auf Kosten des eigenen Hauses, doch der erzielte Gewinn macht sie wett: Die Geschichte eines Handlungsreisenden, der seine zwischen Flughäfen und Hotels abhanden gekommene Identität als Voyeur in Selbsthilfegruppen für Hodenkrebs- oder Mukoviszidose-Patienten sucht und schließlich an den diabolischen Einzelkämpfer Tyler gerät, taugt auch zur Beschreibung von besinnungslosen Nachwendekarrieren.

Selbst wenn die Aktienmillionäre des Start-up-Unternehmens „Intershop“ von der aktuellen Krise daran gehindert werden, ihr zur Kenntlichkeit verzerrtes Spiegelbild im Schatten des Firmensitzes wahrzunehmen, ist die Inszenierung ein Erfolg. Dafür bürgt in erster Linie die Souveränität, mit der Claudia Bauer und ihr Regiepartner Rainald Grebe die Filmsprache in theatrales Vokabular übersetzen. Wo gewöhnlich Unterkiefer in Großaufnahme verrutschen oder versprühte Schweißtropfen wie eine Gloriole schimmern, wird hier die Ent-Täuschung zum Prinzip: In den von Igor Ilitchev choreografierten Duellen wird jede Zeitlupe vom Kampfrichter annonciert. Wenn Blut verlangt wird, holen sich die Kombattanten die nötige Ersatzflüssigkeit aus Eimern vom Rand der Arena. Und für die nötigen Umbauten im offenen Spielraum kommt die Ansage aus dem Stellwerk. Keine Apotheose des Zweikampfs, sondern ein Versuch über die Attraktion der Gewalt.

Dass man gelegentlich dennoch einer gefährlichen Verführung erliegt, ist der Intensität der Darsteller zuzuschreiben. René Mariks dünnhäutiger Ich-Erzähler, sein lakonisch selbstbewusster Gegenspieler Tyler (Holger Kraft) und die zwischen Lebenshunger und Suizidsucht zerrissene Marla (Sandra Hüller) sind dabei nur die durchgängig identifizierbaren Virtuosen in diesem ungemein vielstimmigen Figurenkonzert. Dass man freilich auch in Jena der Versuchung erliegt, den konkreten „Fight Club“ am Ende in einem allgemeinen „Projekt Chaos“ aufzulösen und damit die radikale Reflexion über den Schmerz betäubt, ist bedauerlich. Aber in einem Haus, wo sich mangels Masse selbst der Dramaturg wacker auf der Bühne schlagen lassen muss, sind solche Ausrutscher verzeihlich.

FRANK WENGEL