Vom anthropologischen Journalismus

Das „Independent Media Center“ (IMC) betreibt beim EU-Gipfel in Stockholm alternative Berichterstattung

„Wir wollen als Beobachter mitten unter den Demonstranten stehen, während die etablierten Medien vom sicheren Platz hinter den Polizeiabsperrungen filmen. Das gibt dann wohl eine recht unterschiedliche Perspektive.“

Linus Lundin ist einer der Aktivisten, die seit dem Frühjahr eine schwedische Abteilung des IMC aufgebaut haben. Das „Independent Media Center“ wurde im Zusammenhang mit dem WTO-Gipfel in Seattle vor zwei Jahren geboren. Heute arbeitet diese alternative Nachrichtenagentur in mehreren Teilstaaten Kanadas und der USA sowie in 20 weiteren Ländern in Europa und Südamerika. In Schweden hatte es seine Internetpremiere im April mit Exklusivbildern eines Tortenattentats auf den schwedischen Finanzminister Bosse Ringholm.

Doch das könnte einen falschen Eindruck von den Zielen des IMC vermitteln: „Wir wollen uns gerade nicht wie die etablierten Medien auf Krawalle stürzen“, so Mitgründer Erik Kylin, „sondern zeigen, was an seriösen Debatten hinter den Protesten steht.“ In Göteborg haben sich fast 50 MitarbeiterInnen aus Schweden und anderen Ländern für IMC akkreditieren lassen. Ihre Bilder, Filme und Artikel vom EU-Gipfel und dem Bush-Besuch sollen auf der Internetseite von IMC in schwedischer wie englischer Sprache veröffentlicht werden. Diese Seite soll auch für alle anderen Einzelpersonen und Organisationen offen sein, die etwas zu berichten haben. Das „offene Forum“ kann von zwei Computern im Pustervik-Zentrum aus direkt per E-Mail erreicht werden. Eine Zensur findet dabei – fast – nicht statt. Parteipropaganda, grobe persönliche Kränkungen, rassistische und sexistische Botschaften sollen aber sofort wieder gelöscht werden. Und, so Kylin, man will keine Probleme mit der Justiz bekommen: „Aufforderungen zu ungesetzlicher Aktivität mit Angabe von Details, Zeit und Ort haben dort nichts verloren.“

Die MitarbeiterInnen haben einen mehrstündigen Schnellkursus in Journalistik durch ausgebildete JournalistInnen erhalten, „aber natürlich werden wir uns technisch und formal nicht mit anderen Medien messen können“, so Lundin: „Jeder wird aus seiner persönlichen Perspektive heraus schildern. Wir glauben nicht an Objektivität. Es wird eine Art anthropologische Journalistik, wir wollen auch Gefühle rüberbringen.“ Nach dem EU-Gipfel soll nicht Schluss sein: Man plant, die aufgenommenen Filme in Kinos vorzuführen, Seminare zu veranstalten, vielleicht einen eigenen Radiosender zu gründen. „Wir verstehen uns als Alternative zu Medien wie CNN, die ein von Scheuklappen geprägtes Bild der Welt vermitteln“, erklären Lundin und Kylin. Und berichten, dass CNN von der ersten Seite seines Internetportals aus gerade einen Link (www.sweden.indymedia.org) zur Heimseite von IMC-Kanada gelegt hat. Apropos Pressefreiheit: Mehreren EU-kritischen MedienvertreterInnen sind gestern die Akkreditierungen zum am Freitag beginnenden Gipfel mit windigen Begründungen verweigert oder widerrufen worden. Dagegen hat jetzt auch der Journalistenverband protestiert.

REINHARD WOLFF