Als das Wünschen geholfen hat

Das Wetter gefällt ihm nicht und auch nicht die rechten Jugendlichen. Doch darüber hinaus ist der junge Russe Ewgeni Melnikow glücklich in Mecklenburg

aus Güstrow BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Elisabeth Möller hat mit 53 Jahren einen Sohn bekommen. Nicht nur das Alter der Mutter ist ungewöhnlich. Auch die Umstände der Geburt sind es: Die Schwangerschaft dauerte nur fünf Monate, und als Elisabeth Möller das Kind mit dem russischen Namen Ewgeni in ihre Arme schloss, konnte es bereits laufen, sprechen und schreiben.

All dies ist Folge der Zeugungsgeschichte von Ewgeni, die per Brief begann. Die Absenderin: Rosa Isprawnikowa aus Noworossijsk am Schwarzen Meer. Die 77-Jährige war zwischen 1942 und 1945 Zwangsarbeiterin in und um Güstrow. Der Addressat: „Deutschland, Mecklenburg, Stadt Güstrow, An Herrn Bürgermeister“.

Brief mit Folgen

Als Rosa Isprawnikowa im August 1996 den Brief schrieb, wurde die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern in Deutschland noch nicht diskutiert. Auf eine Antwort vom Bürgermeister würde die alte Frau, die von einer monatlichen Rente von umgerechnet etwa 45 Mark lebt, sicher noch heute warten, wenn nicht Elisabeth Möller wäre. Die engagierte Christin aus dem mecklenburgischen Teterow ist Mutter zweier erwachsener Söhne und Fleischverkäuferin von Beruf. Seit der Wende wurde sie von einer ABM-Stelle zur nächsten geschoben. Im Januar 1997, als sie bei der Ausländerbeauftragten in Güstrow gelandet war, bekam sie den Brief von Rosa Isprawnikowa zur Bearbeitung. Schon wenige Tage später schrieb sie nach Noworossijsk. „Von staatlicher Seite gibt es kein Gesetz, das eine Entschädigung für russische Zwangsarbeiter vorsieht.“ Und: „Sie sollen aber wissen, dass einige Menschen Anteil an Ihrem schweren Schicksal nehmen.“

Erst schnürte Elisabeth Möller Pakete mit Lebensmitteln, Kleidung und einem Fotoapparat, damit Rosa Isprawnikowa Bilder von sich und ihrer Familie nach Deutschland schicken konnte. Dann wollte sie Nägel mit Köpfen machen und Rosa Isprawnikowa nach Deutschland einladen. Aber ein Mensch ist kein Paket, das nur ausreichend frankiert werden muss. Vielmehr wird eine Garantie verlangt, dass er auch wieder zurückfährt. Daher zog es sich dreieinhalb Jahre hin, bis Elisabeth Möller ihre russische Brieffreundin dort hatte, wo sie sie haben wollte: in Güstrow. Das Geld für Flug und Aufenthalt trieb sie, wenn nötig, regelrecht ein: von Vereinen, Organisationen, Privatpersonen und auch vom Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern. Im September vergangenen Jahres, über vier Jahre nach ihrem Brief, traf Rosa Isprawnikowa in Güstrow ein.

Elisabeth Möller hatte nicht nur Empfänge bei Bürgermeistern organisiert, die sich teils großzügig, teils knickrig zeigten. Sie hatte auch Fördergelder beantragt, damit Rosa Isprawnikowa als Zeitzeugin vor Schulklassen sprechen konnte und einen Besuch in dem ehemaligen Versuchsgut in Gülzen arrangiert, auf dessen Feldern Rosa Isprawnikowa vor fast sechzig Jahren arbeitete.

Reise in die Zukunft

Dort, in der jetzigen Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei, wurde die Geburt von Elisabeth Möllers drittem Sohn vorbereitet. Denn aus der Reise von Rosa Isprawnikowa in die Vergangenheit wurde eine Reise in die Zukunft – für ihren Enkel Ewgeni. Als Institutsdirektor Christian Gienapp erfuhr, dass Elisabeth Möller Paten zur Finanzierung von Lehrstellen für die beiden Enkel von Rosa Isprawnikowa in Russland suchte, hatte er eine bessere Idee: Ein Enkelkind sollte eine Lehre im selben Institut machen, wo sich seine Großmutter den Rücken krumm machte. „Es ist ein Stück Wiedergutmachung, dass der Junge am gleichen Ort, wo seiner Großmutter Leid geschehen ist, Perspektiven aufgezeigt werden“, sagt er.

Dass Ewgeni, der mit seinen 21 Jahren so alt ist wie seine Oma am Ende ihrer Zwangsarbeit, im August eine Ausbildung als Bürokaufmann beginnen kann, ist allein Elisabeth Möllers Ausdauer zu verdanken. Schließlich gibt es weder in Russland noch in Deutschland ein Gesetz, dass einen derartigen Lehrlingstransfer vorsieht. Zudem dürfte Ewgeni, der bis zum 20. Mai vergangenen Jahres – seinem Geburtstag – als Soldat an der tschetschenischen Grenze stationiert war, normalerweise fünf Jahre lang nicht ins Ausland reisen. Ganz zu schweigen von den Kosten für Flug, Internat und Sprachkurs.

Elisabeth Möller machte auch nach anonymen Anrufen, die sich angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern erbost über ihr Engagement zeigten, unbeirrt weiter. Das Ergebnis: Das Landwirtschaftsministerium richtete einen zusätzlichen Ausbildungsplatz ein, das Finanzministerium übernahm die Kosten. Als Ewgeni im März nach Teterow kam, konnte Elisabeth Möller ihren unbekannten Sohn in die Arme schließen. „Ich habe ihn schon geliebt, bevor er ankam“, sagt sie. „Es war für mich die schwerste Geburt. Meine beiden Jungs sind einfacher zur Welt gekommen als er nach Deutschland.“

Einsatz für andere

Elisabeth Möller macht keine großen Worte über ihre Anstrengungen in Sachen Wiedergutmachung. Nur so viel: „Ich bin eine kampferprobte ehemalige DDR-Bürgerin, die niemals angepasst war.“ Und: „Wenn etwas aussichtslos erscheint, dann muss ich dagegen ankämpfen.“ Die Frau, die zu DDR-Zeiten Kinder aus Industriegebieten bei sich aufnahm und nach der Wende Frauen aus Tansania einlud, spricht lieber über ihre „Hilfe zur Selbsthilfe“. Denn sie leidet an den Folgen der Arbeitslosigkeit. „Nicht mehr gebraucht zu werden, hat mich einfach krank gemacht“, sagt sie. „Mir geht es besser, wenn ich mich für andere einsetzen kann.“

Noch kann Ewgeni seine Dankbarkeit gegenüber Elisabeth Möller auf Deutsch nicht so ausdrücken, wie er möchte. Alles, was er habe, „hat Elisabeth gemacht“. Sie sei wie eine zweite Mutter. Er zeigt seine Dankbarkeit, indem er schnell die fremde Sprache lernt und den Ratschlag seiner Oma Rosa befolgt, die ihm regelmäßig im Telefon auf Deutsch sagt: „Du musst lernen, lernen und nochmals lernen.“

Zimmer für sich allein

Obwohl Ewgeni von Montag bis Freitags um sechs Uhr aufsteht, zum Sprachkurs nach Rostock fährt und danach bis Mitternacht büffelt, empfindet er Deutschland „als Paradies“. Dafür gibt es viele Gründe: In Russland wäre er schon zu alt für eine Lehre, und seine Familie könnte das Geld, das mittlerweile dafür gezahlt werden muss, nicht aufbringen. Seine Deutschlehrerin nennt er „einen Gott“, und was Elisabeth Möller für ihn macht, sei „wie im Märchen“. Nur zwei Dinge gefallen ihm nicht in Deutschland: das Wetter und rechte Jugendliche, die über seinen Akzent die Nase rümpfen.

Als luxuriös empfindet er das Zimmer, das er allein in einem Internat in Güstrow bewohnt, mit eigenem kleinen Bad. In Russland teilt er sich mit seinen Eltern, Großeltern und seinem Bruder eine kleine Zweizimmerwohnung. Nur einige kleine Fotos an der Wand von seiner Familie und Freundin erinnern ihn an die Heimat. Präsenter ist die Gegenwart: An der Wand hängt ein Stadtplan von Güstrow, daneben ein Foto von Teenie-Idol Christina Aguilera. An die Tür hat Ewgeni ein SPD-Plakat geklebt. „Das ist eine sehr gute Partei“, sagt er. Weil einer der Söhne von Elisabeth Möller Parteimitglied ist und Ewgeni sich sehr für Politik interessiert, hat er im Wahlkampf beim Plakatekleben geholfen. „Ich bin in Deutschland wie ein Kind, weil ich nicht hier geboren bin. Ich will alles wissen“, sagt er.

Fast jedes Wochenende verbringt Ewgeni bei Elisabeth Möller und ihrem Mann Erwin, der sie bei ihren Aktivitäten unterstützt und für sie „der Fels in der Brandung“ ist. Auch bei diesen Besuchen lernt er Neues – und sei es nur, dass er weiß, er ist nicht zu spät gekommen, weil der Kartoffelsalat kalt ist.

Rosa Isprawnikowa schrieb vor wenigen Wochen an ihr „liebes Töchterchen Elisabeth“: „Ich hoffe, dass Ewgeni fleißig und gehorsam ist.“ Der Junge möchte nach seiner Ausbildung ein Büro in Russland zu eröffnen. „Jetzt helfen mir Leute, später will ich Leuten helfen.“ Und Elisabeth Möller wünscht sich nichts sehnlicher als eine sinnvolle Beschäftigung.