Sprachen der Erinnerung

Zweimal Literatur und Judenvernichtung zum Anhören: „Jahrestage“ auf FSK und „Zeit der Unübertrefflichkeit“ im Abaton  ■ Von Christiane Müller-Lobeck

Mit der Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus hat sich die deutsche Literatur beinahe nie befasst. Und wenn, dann ist ihre Beschäftigung Kritik und Literaturwissenschaft nur zu gerne durch die Kategorien gerutscht. Oder sie ist beiden Disziplinen – wie im Fall des Schriftstellers Uwe Johnson – als Ablehnung des Lagerwesens in Ost und West gleichermaßen vorgekommen.

In den kommenden Tagen ist auch für regelrechte Lesemuffel Johnsons Auseinandersetzung mit der Ermordung der europäischen Juden in seinem Roman Jahrestage für die Ohren zu haben, neben einem weiteren Hörspiel, das sich ebenfalls des Ungeheuerlichen der Judenvernichtung angenommen hat: Zeit der Unübertrefflichkeit, nach der Erzählung von Wolfsmehl. Den Jahrestagen widmet sich am Montag eine Radiosendung des Freien Sender Kombinat (FSK), der Umsetzung von Wolfsmehls Erzählung kann Sonntagvormittag im Abaton-Kino gelauscht werden.

Die Zugänge der beiden Autoren könnten unterschiedlicher kaum sein. Während Johnson in seinem fast 2000 Seiten umfassenden Roman einige seiner Figuren, Überlebende, sehr verstreut und fast stotternd von ihren Erlebnissen berichten lässt, ist Wolfsmehls Erzähler, der KZ-Häftling Schadrach (gesprochen von Konrad Halver) ein wahrer Sprachkünstler. Und dies, obwohl seine „Erfahrung“ traumatischer kaum sein kann: Ein Lagerarzt, Skindal (Matthias Fuchs), griff ihn sich, um aus seiner Haut ein letztes Stück Tapete zu gewinnen, das noch zur Fertigstellung eines Raumes fehlt. Dieser soll dem Komandanten des Lagers zum Geburtstag übergeben werden.

Die Verrichtungen des Arztes und zweier Wachen in dem fraglichen Raum schildert Schadrach in der fast gedrechselten Sprache eines Edlen – an Sade darf gedacht werden – nachträglich aus seiner Sicht, in einem Brief an den Kommandanten. Erst aus Schadrachs Perspektive wird die sprichwörtliche deutsche Gründlichkeit der Folterer zu einer neurotischen Penibilität, gerät der ganze Vorgang zu einem absurden Kammerspiel.

Keine Erzählung, die sich mit der Judenvernichtung oder auch nur einem ihrer Teilaspekte beschäftigt, kommt daran vorbei, etwas von dem Unerklärlichen an ihr zu erklären. Das ist die Struktur von Erzählung überhaupt, sei sie literarisch oder historisch. In einem Akt der Verwechslung von Erklärung und Entschuldigung ist das vielen Erzählungen über die Judenvernichtung schon vorgeworfen worden. Wolfsmehl hat sich des Motivs der Gründlichkeit angenommen, das hier wie zufällig einen Einzelnen trifft. Das Ungeheuerliche des systematischen Mordens reduziert er nicht auf dieses Motiv, er gibt es nur als einen Faktor zu bedenken.

Schadrachs flüssige Sprache ist wie ein Triumph über das Schweigen, sei es das absichtsvolle der Täter, sei es das hilflose vieler Opfer. Kommen bei Johnson die Opfer zu Wort, dann ist ihr Erzählen holprig, von Auslassungen geprägt, elliptisch. Ihm gegenüber steht in den Jahrestagen die flüssige Erzählung von Gesine Crespahls Vergangenheit, die sie, inzwischen in New York lebend, erinnert und ihrer Tochter Marie erzählt. Es ist über große Strecken eine Erinnerung an die Jahre 1933–1945, die Gesine in einem kleinen Dorf in Mecklenburg verbracht hat.

Weit eher als die Passagen des Romans, in denen explizit von der Judenvernichtung die Rede ist – es sind sehr wenige – oder in denen überlebende Juden zu Wort kommen, mit denen Gesine in New York Kontakt hat, gräbt Johnson im Mikrokosmos des fiktiven Dorfs Jerichow nach Antworten auf die Frage „wie das denn möglich gewesen ist“. Im Verhalten ihres Vaters und anderer Dorfbewohner sucht Gesine nach der Mittäterschaft am Holocaust, der weit entfernt im Osten stattgefunden hat. Die Radiosendung auf FSK gibt mit vielen gelesenen Textbeispielen einen guten Einblick in die Erinnerungsarbeit der Jahrestage.

Zeit der Unübertrefflichkeit: Sonntag, 11 Uhr, Abaton; Uwe Johnsons „Jahrestage“: Montag, 15–17 Uhr, FSK (93,0/101,4 MHz)