Angst, Dummheit und Neid

Bespitzelt haben ihn die Kollegen, die er mochte, Freunde fast. Heute fragt sich Constantin Badea: „Wie können Menschen sich so beschmutzen?“

aus Ploiești KENO VERSECK

„Ich war Mitglied der Partei, der Gewerkschaft. Viele Jahre habe ich an den Sozialismus geglaubt. Ich dachte, dass er ein gutes Werk ist. Ich habe geglaubt, der Kapitalismus bricht irgendwann zusammen.“ Constantin Badea macht sich nicht über sich selbst lustig, er rechtfertigt sich nicht. Er berichtet, ohne falschen Unterton.

Manchmal schaut er über den Besucher hinweg und sucht angestrengt einen Punkt in der Ferne. Manchmal hält er inne und atmet schwer. Auf einmal sagt er diesen Satz: „Ich war kein Gegner des Regimes, kein Dissident.“ Das ist unerhört. Alle waren gegen das System. Unzählige Parteimitglieder und Securitate-Offiziere haben versucht, es von innen zu verändern. Und nun sagt einer, er sei kein Regimegegner gewesen.

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Akte 54653, erstes Blatt, 9. 9. 1980, Abteilung Staatssicherheit, Dienst 3, Militäreinheit 024 Dolj/Craiova

Meldung: Es wird die Aufnahme in die laufende Bearbeitung der Problemakte „Französischer Spion“ des besagten Badea, Constantin, vorgenommen. Gezeichnet: Hauptmann Viorel Popa

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Constantin Badea, 58, ist Informatikingenieur. In den Siebziger- und Achtzigerjahren arbeitete er in der südrumänischen Industriestadt Craiova bei der Auto-Fabrik Oltcit, die mit Hilfe des französischen Konzerns Citroën gebaut wurde. Von Dezember 1978 bis April 1980 schickte ihn der Betrieb nach Paris zu Citroën, wo er mit einer Gruppe von rumänischen Ingenieuren die Oltcit-Fabrik projektierte. Bevor sein zweijähriger Arbeitsvertrag in Frankreich ausgelaufen war, wurde er im April 1980 ohne Begründung nach Rumänien zurückbeordert. Seine Karriere als Informatiker war beendet. Er wurde auf Verwaltungsposten abgeschoben, zunächst bei der Autofabrik Oltcit, später bei der Raffinerie Petrobrazi in seiner Heimatstadt Ploiești. Genehmigungen für Auslandsreisen erhielt er nicht mehr.

Bald nach seiner Rückkehr vermutete Constantin Badea, dass jemand ihn denunziert hatte. Was genau geschehen war, erfuhr er mehr als zwei Jahrzehnte später. Er war unter den Ersten, die Ende März Einsicht in ihre Securitate-Personalakte erhielten.

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Bericht 320/25660/0080/16. 9. 1979

Hauptmann Viorel Popa an Genosse Voicu, Dienst 2

Die Quelle „Pompiliu“ berichtet, dass der Badea, Constantin, freundschaftliche Beziehungen zum Pförtner des Hauses in der Straße Villaret de Joyense unterhält. Besagter hat Bekanntschaft mit einer Studentin gemacht, mit der er intime Beziehungen unterhält. Besagter hat des Weiteren einen gebrauchten Pkw erworben, mit dem er Fahrten innerhalb Frankreichs unternommen hat. [. . .]

Bemerkung: Rückführung ins Land wird empfohlen. Gezeichnet: Voicu

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Ploiești, Petrochemiezentrum in der großen rumänischen Tiefebene. Weithin sind die Raffinerietürme zu sehen, auf denen riesige Gasflammen flackern. Constantin Badea und seine Frau Valeria, die Chemielehrerin ist, wohnen in einer Neubausiedlung am Stadtrand. Drei kleine, bescheidene Zimmer mit einfachen Möbeln. Die beiden Töchter Alexandra und Irina leben seit einigen Jahren in anderen Städten.

Constantin Badea erzählt: „In den Achtzigerjahren, als es uns in Rumänien so schlecht ging, hatte ich mich an unser ödes Leben gewöhnt und fand es normal. Arbeit, zu Hause, etwas anderes gab es nicht. Wir gehörten zur grauen Masse. Jetzt habe ich die Akte gesehen und festgestellt, dass nichts normal war. Es war ein Leben in einer Sackgasse. Sie haben sogar unsere Briefe aufgemacht und das Telefon abgehört.“

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Bericht 330/N/2. 4. 1980

Quelle „Nicola“ an Hauptmann Viorel Popa

Badea macht während der Arbeitszeit Lärm und spricht laut. Er ist mehrmals verspätet zur Arbeit erschienen sowie mehrmals vorzeitig ohne Begründung gegangen. Mit den Franzosen diskutiert er über Lebenshaltungskosten. Er macht schlechte Witze. Vom Kollegen Chiurtu Nicolae habe ich erfahren, dass er Arm in Arm mit einer Französin gesehen wurde. Ich habe gehört, er schläft nicht in der Unterkunft.

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Jahrelang hat Constantin Badea gerätselt. Es war wohl sein von der Norm abweichendes Verhalten. So sagt er. Er wollte gut Französisch sprechen und unterhielt sich oft mit dem Pförtner im Wohnhaus, den Arbeitskollegen im Citroën-Werk. Er wollte Frankreich sehen und kaufte ein billiges Auto, mit dem er an den Wochenenden durchs Land fuhr. Er machte einen Ausflug nach Belgien, ohne Genehmigung des Parteisekretärs.

Jahrelang hatte Constantin Badea einen unausgesprochenen Verdacht. Ein Kollege, den er nicht mochte. Nun hat er die Akten gesehen und sagt, er müsse sich vor sich selbst entschuldigen. Ausgerechnet dieser Mann war es nicht. Es waren die Kollegen, die er mochte, fast Freunde.

Die berichteten der Securitate nicht nur, was sie wussten. Sie schrieben auf, was sie gehört hatten. Sie erfanden, wie die Securitate-Offiziere, wenn sie an Vorgesetzte rapportierten. So wurde aus einer französischen Werkssekretärin eine Studentin, aus Gesprächen mit ihr eine intime Beziehung. Aus Unterhaltungen mit dem Pförtner im Wohnheim eine „Beziehung zum Zweck der Anhäufung von Gütern und Hartwährung“. Aus einem Parteimitglied ohne Fluchtabsichten ein französischer Spion.

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Meldung 330/PV/20. 5. 1980 an die Abteilung Staatssicherheit, Militäreinheit 0195 Bukarest

Die Ausreisegenehmigung des Badea, Constantin, wurde aufgrund verdächtigen Verhaltens sowie inoffizieller Beziehungen zu Ausländern entzogen. Gezeichnet: Oberst Stefan Alexie

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Constantin Badea hat nach dem Lesen seiner Akte lange überlegt, warum seine Kollegen ihn denunziert haben. Geld, Auslandsaufenthalte, Beförderung? „Nein“, sagt Constantin Badea, „ich glaube nicht, dass sie materielle oder andere Vorteile hatten, auch nicht, dass sie erpresst wurden. Ich glaube, es waren Angst, Dummheit und Neid.“

Auch Constantin Badea sollte spitzeln. Eines Tages, nachdem er seinen Arbeitsvertrag für Frankreich unterzeichnet hatte, tauchte ein Securitate-Offizier bei ihm auf und verlangte, er solle im französischen Citroën-Werk Dokumente stehlen und Berichte über seine Arbeitskollegen schreiben. Badea redete sich heraus. Der Offizier meldete sich nicht wieder bei ihm.

Warum hat er abgelehnt? Constantin Badea überlegt lange. Wieder atmet er schwer. „Ich weiß es nicht“, sagt er. Er sitzt schweigend da, sehr ratlos, die Hände still auf dem Tisch. „Ich kann es selbst nicht erklären. Vielleicht war es eine Abwehrreaktion auf diesen Stil, der bei vielen Menschen verbreitet war, die Spitzelei und das Denunziantentum bei der Securitate als normal anzusehen. Ich habe nicht verstanden, warum ich mir nahe stehenden Menschen etwas Schlechtes antun soll.“

Noch Jahre nach seiner Rückkehr wurden Constantin Badea und seine Familie vom Sonderdienst der Securitate beschattet. Badea fand dutzende Briefabschriften in seiner Akte. 1986 schloss Ceaușescus Geheimdienst die Akte „Französischer Spion“ ergebnislos. Badea blieb beruflich auf dem Abstellgleis. Heute arbeitet er als Manager und Computerexperte für eine private Bukarester Geologiefirma.

„Er hätte das Zeug nicht lesen sollen“, sagt seine Frau Valeria. „Ich war dagegen. Er ist an dem Tag ganz verstört nach Hause gekommen und hat keinen Ton gesagt.“ Constantin Badea sitzt ein wenig da wie ein ertappter Junge. Seine Augen blicken traurig. Er spielt nervös mit einem Kugelschreiber. Nein, er möchte nicht, dass jemand ihm anmerkt, was er empfindet.

Dann, nach langem Zögern, erzählt er doch. „Nach den ersten Seiten ist mir das Blut zu Kopf gestiegen“, sagt er über den Tag, an dem er seine Akte gelesen hat. „Wie können Menschen sich gegenseitig so sehr beschmutzen? Jetzt, nach einigen Wochen, bin ich ruhig.“ Ob er nun alles endlich klargestellt habe, hat ihn ein Nachbar lächelnd gefragt. Ja, alles klargestellt, hat Constantin Badea lapidar geantwortet.

„Einige der Spitzel sind nicht mal befördert worden, andere haben mich einfach verleumdet und uns damit zehn Jahre unseres Leben gestohlen oder jedenfalls vergällt. Das werde ich wohl nie verstehen. Vielleicht werde ich sie eines Tages treffen und sie fragen. Wenn einer anrufen würde, um sich zu entschuldigen, dann würde sich meine Bestürzung etwas legen. Aber es wird keiner anrufen. Und ein Stich in meinem Herzen, der wird bleiben.“