„Das Staunen entwickeln“

Wie wollen wir leben? Bosiljka Schedlich (52), Leiterin des südost Europa Kultur-Zentrums in Berlin, wollte nicht tatenlos zusehen, als 1991 nationalistische Gräben unter Arbeitsmigranten aus Jugoslawien aufrissen. Mit Kulturarbeit sollte eine Brücke geschlagen werden – dann kam der Krieg

Interview CHRISTINE APEL

taz: Welche Ziele hatten Sie, als sie das Südost-Zentrum 1991 gründeten?

Bosiljka Schedlich: Der Verein entstand aus der Verzweiflung über die Veränderungen bei den Menschen, mit denen ich als Gerichtsdolmetscherin in Berlin zu tun hatte. Arbeitsmigranten aus Jugoslawien spalteten sich plötzlich in nationale Gruppen. Sie stritten, wer ein Kulturvolk ist und wer nicht, wessen Sprache besser und älter sei. Aus Angst, was da auf uns zukommt, hat eine kleine Gruppe von Freunden überlegt: Wir müssen einen Ort schaffen, der für alle offen ist, wo nicht Nation oder Religion eine Rolle spielt, wo der Mensch mit seinen Anliegen einen Platz hat.

Wenn Sie nach gut zehn Jahren Bilanz ziehen, wohin hat sich Ihre Arbeit entwickelt, was haben Sie erreicht?

Wir wollten damals vor allem etwas für die Arbeitsmigranten und die Berliner machen. Dies haben wir nicht in dem Maße umsetzen können, wie wir das wollten. Denn die ersten Kriegsflüchtlinge kamen schon 1991. Sie brachten so viele Probleme und Traumata mit, dass die Arbeitsmigranten wieder in den Schatten fielen. Wir haben allerdings auch während des Kriegs große Kulturprojekte hier durchgeführt. Noch heute schreiben uns Flüchtlinge, die inzwischen weitergewandert oder zurückgekehrt sind, das hätte ihnen das Gefühl zurückgegeben, würdige Menschen zu sein. Wir haben aber noch etwas gemacht, was wir uns anfangs nicht vorgenommen hatten: Wir haben praktische Sozialarbeit aufgebaut.

Das ist ein großer Unterschied. Weshalb haben Sie das getan?

Diese Arbeit zeigte uns die Not der Menschen. Sie kamen mit allen möglichen Anliegen zu uns. Diese Anliegen haben uns auch gezwungen, politisch tätig zu werden, in dem Sinne, dass wir für die Belange dieser Menschen wirklich gesprochen haben, geschrieben haben, verhandelt haben mit den unterschiedlichsten Ebenen im Senat oder der Bundesregierung. Häufig hatten wir Medien auf unserer Seite und natürlich Menschenrechtsorganisationen.

Was lag Ihnen bei den Verhandlungen besonders am Herzen?

Wir hatten stets gebeten, den Menschen das Arbeiten zu erlauben. Wir hatten teilweise vierzig Ärzte aus der Region hier. Leider durfte niemand behandeln. Das ist sehr schade. So sind viele Fachleute weitergewandert. Viele hätte man behalten können, der Bedarf ist ja da, wie die Zuwandererdebatte jetzt zeigt. Es gab auch keine politische Einsicht für den Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen. Bis vor kurzem mussten wir darum kämpfen, dass sie einen gesicherten Aufenthaltsstatus bekommen. Jetzt ist es endlich so weit, dass sie, wenn auch schleppend, eine Aufenthaltsbefugnis bekommen können.

Sie fahren häufig nach Bosnien. Wie beurteilen Sie im Jahre sechs nach dem Friedensabkommen von Dayton die Lebensbedingungen dort?

Mein Gefühl ist, dass in Bosnien schon sehr viel aufgebaut worden ist und dass ohne internationale Präsenz der Krieg weitergehen würde und sich ausgeweitet hätte. Mein Eindruck ist auch, dass sich vor allem durch die Basisarbeit einheimischer und ausländischer NGOs ein Parallelsystem entwickelt hat. Derzeit sind die NGOs häufig die einzigen, die punktuell die Not lindern.

Man sagt seit Dayton, der Krieg ist zu Ende. Das bedeutet aber noch keinen Frieden. Was müsste jetzt weiter geschehen?

Das Problem ist, der Daytoner Vertrag wurde im Dezember 1995 mit den Kriegsführern ausgehandelt. Das heißt, dass in der lokalen Verwaltung die Kriegsführer teilweise noch immer über das Schicksal der Opfer entscheiden. Es gibt im kleinen Bosnien, wo mit 3,5 Millionen Menschen gerade mal so viele leben wie in Berlin, noch keine vernünftige Staatsstruktur. Da ist die Föderation, da sind die zehn Kantone, die Hälfte des Landes ist die Republika Srpska. Und die Föderation hat Minister und Vizeminister für alles Mögliche, und in den Kantonen gibt es Minister und Stellvertreter und so weiter.

Das klingt, als ob jeder zweite Bosnier in der Verwaltung arbeitet?

So ist es. Es gab ganz viel Industrie, die durch den Krieg zerstört wurde. Es gab auch vor dem Krieg eine Wirtschaftskrise durch das sozialistische Missmanagement. Diese Bürokratie ernährt sich also aus einem Staat, der kein Einkommen hat, wo ganz viele Leute durch den Krieg Invaliden geworden sind. Allein in Tuzla haben 8.000 Menschen keine tägliche warme Mahlzeit. Da sammelt der Bürgermeister jetzt Geld, damit er diese Menschen ernähren kann.

In Jugoslawien gab es vor dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks keine demokratische Opposition. Seit Dayton ist die internationale Gemeinschaft vor Ort mit vielen Aufbauhelfern. Lässt sich Demokratie importieren?

Nein, Demokratie ist ein Prozess. Die internationale Gemeinschaft besteht aus vielen unterschiedlichen Staaten. Und sie sind sich in vielen Punkten nicht einig. Ich sehe die Entwicklung in Bosnien als langsamen Prozess der Bearbeitung von Geschichte und Annäherung. Es werden nach wie vor Fehler gemacht, wie jetzt in Makedonien. Wir sehen, dass die Friedensarbeit dort ausgebaut werden muss. Und auch in Berlin muss es ein Friedenshaus „Südost-Europa“ als Quelle für neue Impulse für den Frieden geben.

Was muss passieren, damit sich die verfeindeten Volksgruppen im früheren Jugoslawien versöhnen können?

Im Grunde ist es ganz einfach: Die Menschen wissen sehr wohl, welche Nachbarn was gemacht haben. Auch in Srebrenica wissen sie, welche Extremisten an welchen Verbrechen beteiligt waren. Und sie wissen auch, welche Serben hingerichtet wurden, weil sie ihre muslimischen Nachbarn unterstützt hatten. Die Regeln, die uns die Justiz gibt, genügen da. Wer gemordet hat, wird wegen Mordes angeklagt. Wer geplündert hat, muss deswegen vor Gericht. Und zwar unabhängig von seiner religiösen oder nationalen Zugehörigkeit.

Reicht der juristische Weg, um Nationalismus zu überwinden?

Der Nationalismus lauert, solange er nicht aufgearbeitet worden ist. Der Aspekt der Kollektivschuld müsste nicht nur in Deutschland überdacht werden, um ein für alle Mal davon wegzukommen, dass sich Schuld von Generation zu Generation vererbt. Die Serben haben in vielen Teilen Bosniens und Kroatiens Massaker verübt, auch weil über die Verbrechen der Ustascha – der kroatischen Nazis – und der Deutschen an der serbischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg zwar allgemein, aber nie im Detail gesprochen wurde. Ich glaube zum Beispiel, dass es ein Fehler ist, den Deutschen nicht zuzuerkennen, dass sie als Einzelne auch gelitten haben. Sie müssen für immer die beschämten Täter sein. Und das geht nicht. Um aus diesen Rollen rauszukommen, muss jeder vor der Welt sagen dürfen: Auch ich habe gelitten. Erst dann können sie ein wahres Verständnis für die anderen entwickeln.

Was wünschen Sie sich?

Ich wünschte mir, dass die Menschen dem eigenen Tod ins Auge sehen und darin eine Chance erkennen, in der Zeit, in der sie leben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen. Das, was ich den Menschen dann wünsche, dass sie das Staunen entwickeln, das Staunen über die Natur, in der wir leben, über uns selbst, als Wesen, die begreifen können. Und zum Begreifen gehört auch den Tod ergreifen und ins Lebenskonzept einzubauen. Ich glaube, dass sie dann nicht andere Menschen töten müssten. Aus dieser Angst heraus, dass das eigene Leben bedroht wird, verlieren die Menschen das Bewusstsein für die dünne Schicht des Humanismus. Sie handeln aus dem Instinkt und schlagen um sich. Womit sie um sich schlagen, ist in unseren Seelen verankert. Die werden wir nicht los, die Fähigkeit, böse zu sein. Wir müssten sie umarmen als dem Leben eigene Aggression, ohne die das Leben gar nicht möglich ist. Das Lebendige nicht als etwas Schlimmes ablehnen, den Kindern ermöglichen, sich zu entfalten, ihre Aggressionen abzubauen, wie es den jeweiligen Entwicklungsstufen eigen ist, damit sie die Schicht des Humanen von einer Generation zur anderen stärken können. Aber vor allem das Staunen über das Paradies Erde, das wünsche ich den Menschen.