„Die Amerikaner? Na und?“

Wie wollen wir leben? Jedenfalls nicht unter der Herrschaft eines ungezügelten neoliberalen Kapitalismus, sagt Schafik Handal (70), bekennender Kommunist, Parlamentsabgeordneter und politisches Urgestein der „Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí“ (FMLN) in El Salvador

Interview: TONI KEPPELER

taz: Don Schafik, mehr als die Hälfte Ihres Lebens waren Sie im Untergrund. Sie waren 15 Jahre lang Guerilla-Kommandant. Zwölf Jahre davon haben Sie einen offenen Krieg gegen Regierung und Armee von El Salvador geführt. taz-Leser haben in den Achtzigerjahren mehrere Millionen Mark gespendet, damit Sie Waffen kaufen konnten. Heute sind Sie Parlamentsabgeordneter. Und die Armen, für die sie gekämpft haben, sind heute noch ärmer als damals. Waren denn alle Mühen vergeblich?

Schafik Handal: Überhaupt nicht. Das Geld, das Ihre Zeitung gesammelt hat, war nicht zum Fenster hinausgeworfen. Ich war damals in Berlin in der Redaktion und habe mich bedankt, und ich bin Ihren Lesern auch heute noch dankbar. Wir konnten mit dem Geld Waffen kaufen, und wir haben diese Waffen benutzt. Als im November 1989 in Berlin die Mauer fiel, haben wir hier die halbe Hauptstadt besetzt. Während in Europa viele Linken glaubten, jetzt sei alles vorbei mit dem Sozialismus, haben wir mit der größten Offensive des Bürgerkriegs die Voraussetzungen für Friedensverhandlungen erzwungen.

Das mag ja alles sein. Aber den Sozialismus haben Sie damit leider nicht gerettet.

Verlangen Sie nicht zu viel von mir. Immerhin haben wir erreicht, dass die Jahrzehnte lange politische und militärische Repression ein Ende hatte. Wir haben Spielräume geschaffen, die es vorher nicht gab. Vorher hatte in El Salvador niemand die Hoffnung, dass man mit politischem Kampf auch nur irgendetwas erreichen könnte.

Gibt es denn diese Hoffnung heute? Bald zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs macht die rechte Oligarchie des Landes noch immer, was sie will.

Wenn Sie kurzfristig erreichbare Ergebnisse sehen wollen, können wir natürlich nichts vorweisen. Und das wird sich auch nicht ändern, so lange ein kleiner Zirkel von neoliberalen Rechten dieses Land regiert. Es gilt nach wie vor: Eine grundlegende Veränderung dieser Gesellschaft ist nur dann möglich, wenn die demokratische Linke an die Regierung kommt und wenn wir dann die damit verbundene Macht auch nutzen. Man kann über den bewaffneten Kampf an die Macht gelangen, so wie Fidel Castro in Kuba und die Sandinisten in Nicaragua. Wir haben mit der Offensive vom November 1989 für eine politische Verhandlungslösung gekämpft.

Aber was wurde mit dieser Verhandlungslösung gewonnen?

Die vorher unbegrenzte Macht des Militärs wurde auf unseren Druck hin radikal zurückgeschnitten. Die Armee hat heute kein politisches Gewicht mehr. Und wir haben die Möglichkeit gewonnen, mit anderen Mitteln für dieselben Ziele weiter zu kämpfen. Genau das tun wir. Wir sind inzwischen die stärkste politische Kraft im Land, und wir haben noch Wachstumspotenzial. Wir sind heute eine reale Gefahr für diejenigen, die sich für die Besitzer dieses Landes halten.

Die FMLN könnte schon an der Macht sein. Die Präsidentschaftswahl von 1999 wurde verloren, weil sich die Partei als heillos zerstrittener Haufen präsentierte. Die Differenzen zwischen Kommunisten und Sozialisten auf der einen Seite und Sozialdemokraten auf der anderen wurden mit Fäusten und Prügeln ausgetragen. Und diese Konflikte sind bis heute nicht beigelegt.

Die Gefahr von Spaltungen bestand von Anfang an. Das liegt daran, dass es nicht mehr wie im Krieg eine Infiltration von Spionen gibt. Es gibt heute die viel gefährlichere Infiltration von Ideen. Ein Teil von uns hat sich die Logik des Kapitalismus aufdrängen lassen. Sie haben es geglaubt, als man ihnen sagte, Sozialismus sei nicht realistisch und jedenfalls heute nicht machbar.

Ist denn Sozialismus heute realistisch?

Es gibt zwei unterschiedliche Konzepte von Realismus. Wir sind Realisten in dem Sinn, dass wir die Gesellschaft bis in den letzten Winkel hinein kennen wollen, um sie verändern zu können. Und es gibt eine andere Sorte von Realisten, die sagen, man müsse die vom Kapitalismus gesetzten Rahmenbedingungen akzeptieren und sich mit kleinen Verbesserungen zufrieden geben. Das mag für sozialdemokratische oder sozialistische Parteien in Europa akzeptabel sein. Aber wir hier in Zentralamerika haben andere Verhältnisse. Hier genügen kleine Verbesserungen nicht. Das Volk akzeptiert das nicht. Wer sich hier mit dem kapitalistischen Konzept von Realismus abfindet, entfernt sich vom Volk und stellt sich selbst in die Ecke.

Unterstellen wir also einmal, das Volk wolle tatsächlich radikale Veränderungen. Was nützt das? El Salvador ist ein kleines und armes Land, sehr nahe gelegen bei den Vereinigten Staaten von Amerika, wirtschaftlich abhängig von Weltbank und Internationalem Währungsfonds.

Ach, das sagt man immer. Dass die Amerikaner das nicht erlauben. Dass die Weltbank und der Währungsfonds das nicht erlauben. Natürlich erlauben sie das nicht. Na und? Sehen Sie sich doch Kuba an! Man hat immer gesagt, dass die Revolution dort nur überlebt, weil die Sowjetunion ihre schützende Hand darüber hält, in militärischer und in wirtschaftlicher Hinsicht. Seit mehr als zehn Jahren gibt es keine Sowjetunion mehr. Aber die kubanische Revolution gibt es noch immer. Und den meisten Menschen in Kuba geht es noch immer viel besser als den allermeisten Salvadorianern.

Die Verhältnisse in Kuba sind also Ihrer Ansicht nach das Modell für die Linke El Salvadors?

Nein. Das soll nur heißen: Eine Revolution gegen den Willen der USA ist möglich. Und das Überleben ohne Weltbank und Währungsfonds ist auch möglich. Man will uns Entwicklungsländern immer einreden, dass wir ohne diese beiden Institutionen überhaupt nichts tun können. Das ist schon wie ein Dogma. Aber es ist eine Lüge. Kuba hat noch keinen Pfennig von ihnen bekommen. Und es existiert trotzdem. Damit will ich nicht sagen, dass man das kubanische Modell kopieren muss. Kuba ist nur ein Beweis dafür, dass man auch ohne die USA, die Weltbank und den Währungsfond weiterkommen kann. Und Kuba ist der Beweis dafür, dass 1989 nicht das Ende war, sondern nur ein vorübergehender Einbruch. Dass es noch immer die Utopie gibt einer Gesellschaft nach dem Kapitalismus, die besser sein wird als der Kapitalismus. Die Utopie von einer Gesellschaft, in der all die Probleme gelöst werden können, die der Kapitalismus geschaffen hat.

Die kubanischen Revolutionäre kamen mit Waffengewalt an die Macht. Die FMLN dagegen setzt heute auf demokratische Wahlen.

Ich will nicht ausschließen, dass der bewaffnete Kampf irgendwann einmal wieder nötig sein könnte. Und wir setzen nicht nur auf Wahlen. Wir setzen auch darauf, dass das Volk sich organisiert.

Das Volk also ist das revolutionäre Subjekt?

Nicht ganz. Wenn du in El Salvador lebst, hast du drei Möglichkeiten. Erstens: Du gehst. Und das tun viele. Ein Viertel der Bevölkerung lebt schon heute in den USA. Zweitens: Du wirst zum Kriminellen. Auch da gibt es viele. Aber wenn du weder die erste noch die zweite Möglichkeit ergreifst, dann gehörst du zu der Kraft, die diese Gesellschaft verändern will.

Wer nicht auswandern will und nicht kriminell wird, ist noch lange kein Linker.

Das stimmt. Wir müssen uns deshalb, wenn wir an eine zukünftige Gesellschaft denken, von einer Verengung auf die rein ökonomischen Verhältnisse verabschieden. Das war lange genug ein Fehler der Linken. Es reicht nicht aus, wenn die Produktionsmittel in der Hand des Volkes sind. Es geht nicht nur darum, die materielle Lebensqualität zu verbessern. Wenn wir eines aus dem Zusammenbruch des Ostblocks gelernt haben, dann dieses: Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, die Verhältnisse zu verbessern. Wir müssen auch den Menschen selbst verbessern.

Das hört sich ja an wie der Traum vom „neuen Menschen“, den der gute alte Che Guevara hatte.

Genau.