„Ohne Sprache bist du ein toter Mann“

Sprachprobleme haben die Familie Sahin umgekrempelt. Der Alte übt Rollenspiele, Sohn Bayram ist Übersetzer, und seine Ehefrau büffelt Deutsch

Neun Uhr Morgens, ein Klassenzimmer in Neukölln. Rukuya Sahin hat Deutschunterricht. Sie lernt „der Junge“ statt „die Junge“ zu sagen, sich vorzustellen und in einem Restaurant ein Schnitzel zu bestellen. Alles ausschließlich in Deutsch. Die Lehrerin spricht kein Türkisch – die Muttersprache der meisten ihrer Schülerinnen. Aber der Unterricht an der Volkshochschule Neukölln klappt auch so. Wenn ein Wort nicht verstanden wird, übersetzt eine der 15 Kursteilnehmerinnen, die ein Wörterbuch hat. „Trinkgeld?“ – „Bakschisch“. Na, klar. Alle lachen, nicken, geben bei dem Rollenspiel im Restaurant ganz viel Trinkgeld.

„Die vierstündigen Vormittagskurse speziell für Frauen sind ein voller Erfolg“, sagt Leopold Bongart, Leiter der Volkshochschule Neukölln. Allein an seiner Volkshochschule gab es im letzten Jahr 94 speziell für Frauen und Mütter eingerichtete Deutschkurse. „Diese Kurse sind ungeheuer wichtig, weil gerade die Frauen, die durch Heiratsmigration nach Deutschland kommen, oft kein Wort Deutsch sprechen und in der ersten Zeit ihres Aufenthalts auch nicht zum Lernen kommen“, sagt Bongart.

Im Gegensatz zu der gängigen Meinung, dass sich das Sprachproblem mit der zweiten Generation erübrigt, hat Bongart andere Erfahrungen gemacht. „Der Gesamtbedarf an Sprachkursen hat in den 25 Jahren meiner Tätigkeit hier nicht nachgelassen. Nur die Zielgruppen haben sich geändert. Weniger Jugendliche, mehr Nachzügler.“

Wenn man zu der 32-jährigen Rukuya nach Hause kommt, lacht die Hausherrin und sagt ein bisschen stolz: „Möchten Sie lieber einen Tee oder einen Kaffee?“ – erste Lektion Deutschkurs. Pulla Sahin, ihre Schwiegermutter, sagt „Guten Tag. Wie gehts’s?“ Lacht auch, versteht die Antwort aber nicht. Rukuyas Schwiegervater, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt, auch nicht. Ihr Mann, Bayram Sahin, sagt dazu: „Mein Vater hat die ganze Zeit gearbeitet und hatte keine Zeit, Deutsch zu lernen. Meine Mutter konnte nicht lesen und nicht schreiben. Da war es schwierig mit den Kursen. Außerdem steht in ihrem Pass ein falsches Geburtsdatum 1918, statt 1934. So war sie offiziell auch zu alt zum Arbeiten. Das Deutschlernen hätte sich nicht wirklich gelohnt.“

In der Familie von Rukuya Sahin haben die quer durch alle Generationen auftretenden Sprachprobleme sämtliche Hierarchien umgekrempelt. Bayram kam zwölf Jahre nach seinem Vater nach Deutschland. Da war er 14. Er ist in Berlin zur Schule gegangen, lernte schnell Deutsch und avancierte so zum Familienübersetzer. Bei Behördengängen, beim Arzt, bei Versicherungen. „Manchmal hatte ich dazu auch keine Lust. Ich musste mir dafür neben der Schule immer Zeit nehmen.“

Wie lief es im alltäglichen Leben bei den Eltern? Bayram fragt seinen Vater auf Türkisch. Der antwortet. Bayram übersetzt: „Mein Vater sagt, am Anfang, als es noch nicht so viele Supermärkte und noch nicht so viele türkische Läden gab, hat er immer vorgespielt, was er wollte. Wollte er Eier haben, hat er ein Huhn nachgemacht, für Milch, die Kuh.“ Ob ihn das nicht manchmal geärgert hat? Bayram wendet sich noch einmal an seinen 67-jährigen Vater und sagt dann: „Mein Vater ist der gleichen Meinung wie ich, ohne Sprache bist du ein toter Mann.“

Damit es seiner Ehefrau nicht so geht wie seinen Eltern will Bayram, dass sie jetzt Deutsch lernt. Das will Rukuya auch. Sechs Jahre Kinderhüten sind genug.

Seit sie Anfang des Jahres mit dem Kurs angefangen hat, besteht auch ihre Welt aus Übersetzungen. Deutsch-Türkisch. Türkisch-Deutsch. Übersetzungen zwischen dem Zuhause mit türkischem Fernsehen, Hürriyet und Türkisch sprechendem Besuch auf der einen Seite und einem deutschsprachigen Berlin, das sie kaum kennt, auf der anderen. Zu Hause ist sie Mutter, Ehefrau, Schwiegertochter, im deutschsprachigen Berlin ist sie oft hilflos.

Obwohl das auf den ersten Blick gar nicht so aussieht: „Beim Einkaufen nehme ich mir, was ich will, das Administrative regelt mein Mann.“ Sie ist schließlich erst am Anfang mit ihrem Deutsch, kann Kleider umtauschen und beim Arzt sagen: „Nase, Schulter oder Rücken tut weh.“ Außerhalb der Alltagssituationen kommt Rukuya aber kaum zum Üben. Die Freunde sprechen alle Türkisch, mit ihrem Mann unterhält sie sich nicht gerne auf Deutsch,„der ist immer so ungeduldig, wenn ich Fehler mache“ – und wenn sie mit ihrem Sohn Deutsch spricht, sagt der: „Mama, das machst du falsch.“ Gerne redet sie deshalb nur mit ihrer 10-jährigen Nichte. „Die spricht schon richtig gut Deutsch und ärgert mich nicht.“ Rukuyas Ziel ist es „als Sekretärin“ zu arbeiten. Ihr Mann und sie lachen. „Bis dahin musst du aber noch viel lernen“, sagt er.

Was beide nicht verstehen ist, dass der sechsjährige Sohn bei einem Vorschultest durchgefallen ist und dieses Jahr nicht in die Schule kommen soll. Sie finden, dass ihr Sohn zwar nicht viel, aber gut Deutsch spricht. „Besser als ich auf jeden Fall“, sagt Rukuya. Bayram hat jetzt Widerspruch dagegen eingelegt, dass sein Sohn noch nicht in die Schule darf. Armin Eckstein, Schulrat in Neukölln findet, dass Sprachdefizite kein genereller Grund sind, ein Kind nicht einzuschulen. „Es gibt für Kinder mit Sprachproblemen in der ersten Klasse Förderkurse.“

Unabhängig davon, ob ihr Sohn dieses Jahr in die erste Klasse kommt oder nicht, Rukuya macht auf jeden Fall weiter mit dem Deutschunterricht. Die Elternabende im Kindergarten hat sie verpasst – bei denen an der Grundschule will sie jetzt dabei sein. Und ihrem Sohn bei den Hausaufgaben helfen, das will sie auch. KATJA BIGALKE