Kein Gestein, kein Gestrüpp

Nur noch Linien und Felder: Das Babylon-Mitte zeigt zwei neuere Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet über den fotografischen Ursprung des Bewegungsbildes

Natürlich kann man in einem Film von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet nicht wohnen. Die Filme der Straubs sind einfach viel zu karg und abweisend, als dass man sich darin wirklich wohl fühlen könnte. Soll man ja auch nicht. „Wenn ein Film abläuft, der nicht auf Betrug beruht, dann passiert eben überhaupt nichts. Das kann nur im Zuschauer passieren, was passiert . . .“, hat Straub einmal gesagt und damit die Voraussetzung seines ästhetischen Programms formuliert.

Im 1998 entstandenen Film „Sicilia!“ zum Beispiel ist in gewisser Hinsicht die im Off stattfindende Einfahrt eines Zuges der erzählerische Höhepunkt. Während der Zug den Bahnhof erreicht, sieht der Zuschauer nur ein Schild und auffliegende Tauben. „Sicilia!“, nach Elio Vittorinis Roman „Gespräch in Sizilien“, „erzählt“ von einer Heimkehr. Von einem Mann, der nach Sizilien zurückkommt, sich nach seiner Ankunft mit einem Obstverkäufer unterhält, Zug fährt und ein langes Gespräch mit seiner Mutter über die Vergangenheit führt. Am Ende trifft er auf einen Scherenschleifer, der sagt: „Die Frage ist, dass einer nicht weiß, wie er es halten soll mit den Fremden.“

„Sicilia!“ ist einerseits ein Film über die Musikalität der Sprache, weil der Text als Melodie deklamiert wird, ohne gesungen zu werden. Andererseits führen die Straubs das Bewegungsbild immer wieder auf seinen fotografischen Ursprung zurück, indem sie es entschleunigen, manchmal fast zum Stolpern bringen. Dann sieht man ein Gesicht, das plötzlich wie eingefroren erstarrt, als wäre die Person aus der Zeit gefallen.

Filme aus der Tonspur heraus zu entwickeln, ist überhaupt eine zentrale Strategie der Straubs. Die Schönberg-Oper „Von heute auf morgen“ (die Musik stammt von Arnold Schönberg, das Libretto von seiner Frau) diente als Vorlage für den gleichnamigen Film, der 1996 entstand. Es geht um eine alltägliche Ehekrise, Eifersuchtsszenen und die anschließende Versöhnung mit einer wunderschönen Schlusspointe. Vorlage bedeutet in diesem Fall aber nicht nur die Adaption von Figuren, Dialogen und Handlung, sondern bezieht sich auch auf die Form.

Sämtliche Einstellungen – sieht man von den zwei Szenen des Vorspanns ab – wurden aus der Partitur abgeleitet, auch der Schnitt orientiert sich an der Dynamik des musikalischen Materials. In der einzigen Außenaufnahme des Films, der ansonsten in einer Bühnenkulisse aufgenommen wurde, zeigt eine zweiminütige Einstellung eine Mauer, auf der die Frage „Wo liegt euer Lächeln begraben?“ steht. Und der Zuschauer kann eine halbe Ewigkeit lang beobachten, wie das Licht im Zusammenspiel mit einem hinter dieser Mauer stehenden windbewegten Baum diese Schrift-Spur aufleuchten und verblassen lässt.

Immer wieder geht es in den Filmen von Straub/Huillet um das Verhältnis einer solchen vorgefundenen Wirklichkeit und den Möglichkeiten ihrer filmischen Erfahrbarkeit. Eine Szene in „Sicilia!“ verdeutlicht dabei das Verfremdungspotenzial des Mediums: Die Kamera nimmt die Perspektive eines Reisenden ein und blickt durch ein Zugfenster auf die vorüberziehende Küstenlandschaft.

Wenn dann noch die Zuggeräusche verstummen, die Reise-Bilder in absoluter Stille vorüberziehen, kann man irgendwann die Dinge nicht mehr erkennen, kein Gestein, kein Gestrüpp, sondern nur noch Linien, Muster und Felder unterschiedlicher Schattierungen.

Das eigentlich „realistische“ Bewegungsbild einer Außenwelt verwandelt sich in ein fließendes Gemälde und entwickelt eine eigene, abstrakte Qualität. Während hier sozusagen jede Bedeutungsschicht ausradiert wird, gibt es im Straub’schen Universum auch das umgekehrte Verfahren. Immer wieder beginnen sich dort gewöhnliche Objekte (eine Melone, eine Tür) mit ungeahnten Bedeutungen aufzuladen und entfalten – allein durch den insistierenden Blick der Kamera – eine sinnliche Dimension, die eigentlich nur das Kino freilegen kann. SIMON ROTHÖLER

„Von heute auf morgen“ läuft am 20./21. Juli und „Sicilia!“ am 27. und 29. Juli im Babylon-Mitte, Rosa-Luxemburg-Straße 30