Monologe in Labyrinthen

„Pschitt“ – da ist noch Luft drin: Auf dem größten Theaterfestival der Welt in Avignon waren Stücke von Bernard Sobel, Jean-Luc Lagarce und Kristin Scott Thomas als stolpernder Schwan in Lambert Wilsons Inszenierung von Racines „Bérénice“ zu sehen

von JÜRGEN BERGER

Im Moment beschäftigt sich die französische Nation ja eigentlich mit einer lautmalerischen Kreation Jacques Chiracs. Am Nationalfeiertag meinte er, das Theater um die obskure Finanzierung seiner Flugreisen sei „Pschitt“. Dass die Luft da schon raus ist, wollte er sagen. Seither grübelt aber jeder beim Öffnen einer Mineralwasserflasche zum Beispiel, ob Chirac nicht auch gemeint haben könnte, seiner Amtszeit sei endgültig die Luft entwichen.

Im Theaterfestival in Avignon dagegen ist bis Ende des Monats noch jede Menge Luft drin. Da gab es zwar Leerlauf wie bei Christophe Huysmans Gesamtkunstwerk „Les hommes degringoles“. Und da fragte man sich auch im Falle des „Ubu Roi“, was Bernard Sobel tatsächlich wollte, außer den Franzosen einmal mehr Alfred Jarrys Surrealismus-Ouvertüre zu bescheren und Denis Lavant als blitzflinken Slapstickhelden zu präsentieren. Sobel ist mit seinem Théâtre de Gennevilliers seit Jahrzehnten eine Konstante der französischen Theaterszene. „Ubu Roi“ überzeugt vor allem mit dem Bühnenbild – einer Riesenhand, auf der Ubu wie auf einer Rodelpiste in die Tiefe hoppeln darf.

Sobels „Ubu“ wird im Innenhof des Gymnasiums Saint Joseph gezeigt. Da ist es wunderbar luftig. Etwas weiter hinten liegt die heruntergekommene Turnhalle der ehrwürdigen Bildungsanstalt, und die ist alles andere als luftig. Festivalchef Bernard Faivre d’Arcier meinte gerade in einem Interview, sein Festival biete ja immerhin noch 41 Produktionen, obwohl das geschrumpfte Budget von inzwischen zirka 17 Millionen Mark zum großen Teil von Personalkosten und der Installation von zwanzig Spielstätten gefressen werde. Allein der Aufbau der mehr als 2.000 Personen fassenden Zuschauerränge im Papstpalast koste 300.000 Mark, und schon deshalb verzichte er zum Beispiel auf den Boulbon-Steinbruch, wo Peter Brook dereinst sein „Mahabharata“ inszenierte.

Stattdessen kommen Spielstätten wie die Saint-Joseph-Turnhalle dazu, die mit weniger Aufwand einzurichten sind und an deren Eingang man ein ungewöhnliches Spektakel erleben kann. Abends gegen 19 Uhr zeigt das Thermometer immer noch 30 Grad. Trotzdem wollen alle rein in die stickige, ausverkaufte Turnhalle und zu Jean-Luc Lagarce’ „Le pays lointain“. Da sind fast vier Stunden Konzentration auf einen Text gefordert, bei dem man zuerst meint, er sei nicht fur die Bühne geeignet.

Fertig gestellt hat Lagarce „Das ferne Land“ Mitte der Neunzigerjahre kurz vor seinem Aidstod. Die Uraufführung, die in Avignon zu sehen ist, besorgte François Rancillac, der den 150-Seiten-Text um ganze Absätze kürzte und eine überzeugende Inszenierungsidee hatte: Lagarce’ Monologe zum Leben des Louis werden in einem riesigen Bettenlabyrinth gesprochen. Der Tod ist stets präsent, das Ganze kann sich aber auch in eine grüne Plüschlandschaft verwandeln, auf der alle Familienmitglieder, Freunde und Liebhaber des Louis wandeln, der Zeit seines Lebens ein Held der Abwesenheit war. Er ist heimgekehrt und wird von allen heimgesucht, die in seinem Leben eine Rolle spielten. Eigentlich, so denkt man, müsste aus Lagarce’ Stück nach einer Stunde die Luft raus sein.

Seltsamerweise wird man aber in die Geschichte des Louis gezogen, die Rancillac nicht zuletzt deshalb so souverän umsetzen konnte, weil er in seinem Pariser Théâtre du Binome Schaupielerinnen wie Christine Guenon zur Verfügung hat. Sie spielt Louis’ junge Schwester. Und sie spricht einen langen Monolog, aus dem andere Autoren ein eigenes Stück gemacht hatten. Wie sie das macht, ist ein Ereignis.

Ein Ereignis hatte wohl auch Kristin Scott Thomas in Lambert Wilsons Inszenierung von Racines „Bérénice“ sein sollen. Wilson ist als Schauspieler aus Chabrol-Filmen und Zulawskis „Die öffentliche Frau“ bekannt. Kristin Scott Thomas kennt die Kinogemeinde aus Redfords „Pferdeflüsterer“ und als Sterbende in der Wüstenhöhle aus dem „Englischen Patienten“. Jetzt soll sie die Bérénice auf der Bühne sein, die Titus aus Palästina mit nach Rom brachte, die aber plötzlich nicht mehr ins Konzept passt. Titus wird römischer Imperator und eine Fremde auf dem Thron – das geht nicht. Das mit Kristin Scott Thomas als Bérénice geht aber auch nicht, da sie sich vor allem ins Statuarische rettet und in Momenten des Schmerzes den stolpernden Schwan gibt.

Da auch Didier Sandre aus Titus einen Bürokraten mit Stoiber-Appeal macht, besteht der Witz von Lambert Wilsons Inszenierung darin, dass er selbst in der Rolle des Antiochus überzeugendster Schauspieler ist. Die Inszenierung wurde trotzdem gefeiert, während sich das französische Publikum im Falle von Marius von Mayenburgs „Feuergesicht“ zuerst einmal eine Verdauungssekunde gönnte. Das lag an der Heftigkeit der Sprache im Stück des Schaubühnen-Dramaturgen. Es lag aber auch an der direkten und packenden Inszenierung Oskaras Korsunovas, der mit seiner freien Litauischen Gruppe und Kane- sowie Ravenhill-Inszenierungen wie eine Vilnius-Dependance von Thomas Ostermeiers Schaubühne wirkt. Er ist mit „Dantons Tod“ in Avignon vertreten. Besonders hervorzuheben im litauischen „Feuergesicht“ ist Rasa Samuolyte als Olga. Aus Filmen ist sie bis jetzt zwar noch nicht bekannt, hat dafür aber im Unterschied zu Chirac noch einige Luft für ein langes Leben als Schauspielerin.