Eine zweite Haut aus Stoff

taz-Serie „Schrille Läden“ (Teil 6): Bei Fichu stapeln sich Textilien aus den 30er-Jahren. Denn, so glaubt Ladenbesitzer Oleg Ilyapour, nur alte Stoffe können den Menschen wirklich schmeicheln

von KATJA BIGALKE

Bis unter die Decke stapelt sich der bunte Faserwirrwar. Kein Stoffballen sieht aus wie der andere: Durcheinander flieder- und mintfarbene Blusenstoffe, durchsichtiger Crêpe Georgette mit Paisley-Blumen, golddurchwebter Brokat, hellgelber Battist mit orange Rosen und wollene Karo-Anzugstoffe.

Die Textilien lagern bei Fichu, einem kleinen Laden in der Schöneberger Akazienstraße. Über dem Eingang hängen rosafarbene Negligés aus den 30er-Jahren, im Schaufenster sind Krawattenmuster von 1937 bis 1952 neben 50er-Jahre-Badekappen ausgestellt. Die Jahreszahlen sind wichtig, denn bei Fichu gibt es nichts, was nach 1971 produziert wurde. „1971 ist die Scheidegrenze zwischen Konsum und Qualität. Die Chemiefaser hatte sich endgültig durchgesetzt“, begründet Oleg Ilyapour die Ablehnung der neuen Materialien.

Ilyapour ist der Besitzer der Textilgeschichte am Meter. Er bewegt sich zwischen den Stoffschluchten wie ein Bibliothekar. Kann jedem Stoff eine Marke zuordnen, jedem Motiv eine Botschaft und jeder Faser die Zeit ihrer Herstellung. Das Leben des 55-Jährigen ist mit Textilien verwoben. Von seiner Mutter, die seit 1928 in Berlin mit Textilien handelte, hat er das Geschäft von der Pike auf gelernt. Schon als 5-jähriger zog er mit ihr auf Wochenmärkten herum, half beim Handel. 1964 eröffneten sie den Laden in der Akazienstraße. Als sich der Wandel in der Branche zunehmend bemerkbar machte, beschlossen die beiden, nur noch Restposten aufzukaufen – der Qualität und der Aussage wegen.

„Kleidung ist wie eine zweite Haut“, sagt Ilyapour. Und dass Stoffe das Individuelle im Menschen ansprechen sollten: „Die Umwelt hat sich so stark verändert, dass die neuen Textilien gar nicht mehr der Natur des Menschen schmeicheln können.“

Er schwärmt vom feinen Garn der Maco-Baumwolle aus Ägypten – „dermaßen soft“ –, von verfilztem Kaschmir – „unglaublich warm“ – und vom „Griff“ der ersten Nylons aus den 30ern – solches Mischgewebe könne man heute gar nicht mehr herstellen. Damit seine Stoffe schmeicheln, behandelt sie Ilyapour wie Pflanzen. Immer wieder rollt er die Ballen auseinander „damit die Fasern den Wechsel der Jahreszeiten mitbekommen“.

Das Geschäft spielt eine weniger große Rolle. In seinem Laden ist auch kaum Betrieb. In vier Stunden hat Ilyapour etwa 50 Leuten auf der Straße „Guten Tag“ zugerufen, aber kein einziger Kunde hat seinen Laden betreten. „Die Leute, die kommen, wissen ganz genau, was sie wollen“, sagt er. Dann zählt er auf: Die Modedesignerin Donna Karan besorgte sich bei ihm Muster, um an der Herstellung der Textilien zu forschen; Theater fragen an für Kostüme; Designstudenten der HdK suchen nach Accessoires. Gürtelschnallen, Borten, Spitzen oder Knöpfe. Davon hat er ebenfalls tausende im Angebot. Ob schwarze Art-déco-Knöpfe aus den 20ern, barocke Bernstein-Buttons mit Maserung oder pastellfarbene Psychodelic-Knöpfe von Chanel. Das Repertoire von Ilyapour ist unerschöpflich und stapelt sich: natürlich – in kleinen Pappschachteln, bis unter die Decke.

Fichu, Akazienstraße 21, 10823 Berlin; Mo.–Fr. 12–18, Di. 15–18, Sa. 10–13 Uhr