Schalke gibt es nicht mehr

Seit Monaten läuft die Bundesligasaison schon, und Leo Kirch weiß noch nicht einmal davon. Wie das? Die Lösung heißt: Chile

von MARTIN KALUZA

Für die Bayern hat der Kampf um die Titelverteidigung bereits Mitte März begonnen: So lange läuft nämlich die Bundesligasaison schon auf Hochtouren. Dass Schalke 04 ihnen die Meisterschaft noch wegschnappt, brauchen sie diesmal nicht zu befürchten – die Mannschaft gibt es gar nicht mehr. Aber vielleicht muss man doch etwas weiter ausholen, um das zu erklären.

Behäbig breitet sich der Samstagmorgen über dem satten Rasen aus, weit ab vom verstaubten Zentrum Santiago de Chiles. Ein recht stabiler Herr mit kurzen Haaren blinzelt in die Sonne, die langsam zu brennen beginnt, und umwickelt in aller Ruhe seine Fingergelenke. „Niemals a las diez“, kommentiert er kopfschüttelnd mein frühes Erscheinen: „¡Estamos en Chile, flaco!“: Junge, wir sind in Chile! Señor Rudi Schmidt hatte mich bestellt, für so halbzehn bis zehn. Der Herr, der nicht Rudi Schmidt ist, stülpt sich ein Trikot über, auf dem das kreisrunde Logo der Paulanerbrauerei prangt – darüber der Schriftzug Manquehue. „El Rudi“, ja, der kommt sicher noch. Der Mann kramt Torwarthandschuhe hervor, beachtet mich nicht weiter und beginnt mit dem Warmlaufen. In zwei Wochen beginnt die Saison, für heute sind ein paar Freundschaftsspiele zum Warmkicken angesetzt.

Rudi Schmidt, ein freundlicher, schmalgesichtiger Endvierziger, ist Volkswirt und Fußballdirektor im „Club Deportivo Manquehue“, einem privaten Sportclub in Chiles Hauptstadt. Über die Jahre haben sich dort so viele Fußballer angesammelt, dass sie mit inzwischen zwanzig Mannschaften – getrennt nach U35 und egal wie alt – eine vereinsinterne Freizeitliga gegründet haben: die „Bundesliga“. Passenderweise heißen die Mannschaften Freiburg, Leverkusen, Bayern München, Paulaner München (nach dem Trikotsponsor) und, nun ja, „Panzer“.

Das wundert, weil doch der deutsche Fußball, zumindest hier in Europa, im Moment vom Ruf her eher schwächelt. Doch zum einen sieht das aus der Distanz immer etwas günstiger aus, und die deutsche Nationalelf wird nach 4:0-Siegen gegen Armenien in der chilenischen Presse immer noch gern „die deutsche Maschine“ genannt. Zum anderen blicken die chilenischen Kicker durchaus neidvoll auf die Geschichte teutonischer Titelgewinne.

Der größte Erfolg in der Fußballgeschichte des Andenstaates war der dritte Platz bei der Weltmeisterschaft 1962 im eigenen Land (dass Chile sich im Halbfinale Brasilien geschlagen geben musste, obwohl doch Pelé gerade verletzt war, ist ein hartnäckiges Trauma). 1990 und 1994 durfte Chile erst gar nicht teilnehmen, weil sich in einem Qualifikationsspiel (gegen Brasilien) der Torwart „El Condor“ Rojas die eigene Stirn aufgeschlitzt hatte, um böswillige Gewaltakte gegen Chile zu simulieren. Bei der WM 1998 vollbrachte das chilenische Team die historische Leistung, ohne einen einzigen Vorrundensieg ins Viertelfinale vorzustoßen – und scheiterte an Brasilien. Für die WM 2002 wird sich Chile wohl gar nicht erst qualifizieren (und das, obwohl es – Ironie des Schicksals – Brasilien in der Qualifikationsrunde diesmal zum Erstaunen der Fachwelt 3:0 weggeputzt hat). Aber auch das ist nicht der Hauptgrund, eine Division von Freizeitkickern südlich des Äquators „Bundesliga“ zu nennen.

Der „Club Manquehue“, auch wenn der Name sich nicht direkt danach anhört, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von deutschen Einwanderern gegründet. Damals muss das Gelände mit Blick auf den erloschenen Vulkan Manquehue noch außerhalb der Stadt gelegen haben. „Manquehue“, erklärt Rudi, „ist ein Wort aus der Sprache der Mapuche. Es bedeutet so viel wie Nest des Condors.“ Das klingt doch schon fast nach Heimatfilm. Tatsächlich haben deutsche Einwanderer in Chile eine lange Tradition. Sie brachten die Schwarzbunte über die Anden, produzierten Marzipan und errichteten Nobelkliniken. Noch heute haben die Biersorten klangvolle Namen wie „Becker“ und „Kunstmann“, und das deutsche Wort „Kuchen“ ist aus dem chilenischen Wortschatz praktisch nicht mehr wegzudenken. Hier auf dem Fußballplatz wird Spanisch gesprochen – und manchmal deutsch geflucht.

Zwei Wochen später, es ist Anfang März, schließlich der Saisonauftakt. Ich nehme mir vor, diesmal nicht so peinlich pünktlich zu erscheinen. Doch schon von weitem wehen Fußgetrappel, Ballgebunfe und Grätschgeräusche zum Kiesweg herüber. Ich nestele noch an der Kameraausrüstung, als mir ein Spieler im gelben Trikot eindringliche Handzeichen gibt und mit den Worten „Zieh dich um, Mann, wir sind zwei weniger!“ zu meinem Bundesligadebüt verhilft. Eine späte Ehre, die ich zu schätzen weiß; umso mehr, als sich herausstellt, dass ich für den Hamburger Sportverein spielen darf. Auf der Position des rechten Außenverteidigers treibt Rudi Schmidt gerade den Ball am gegnerischen Mittelfeld vorbei. Der Spielstand: 0:4. Die Lage ist schwierig – aber nicht aussichtslos. In den verbleibenden Minuten der ersten und der kompletten zweiten Halbzeit kassieren wir nur noch einen weiteren Gegentreffer. Ein 0:5, mit dem man zufrieden sein kann.

Als nächstes muss Freiburg gegen eine neu formierte Mannschaft antreten, die bis kurz vor Anpfiff noch gar keinen Namen hat. Ein Spieler mit Paulo-Rink-Bademeisterfrisur schlägt vor, das Team „Hugo Boss“ zu nennen, seine Frau arbeite für den. Zu allem Überfluss geht Hugo direkt in Führung, und nach einer roten Karte knickt Freiburg weiter ein. 2:6 liegen die chilenischen Breisgaubrasilianer zur Halbzeit zurück, reißen das Ruder aber noch einmal herum – die Partie endet unter der staunenden Anerkennung einer handvoll Zuschauer, die sich im Schatten fläzen, 6:6.

Nun steht der Klassiker unmittelbar bevor: Bayern München gegen Borussia Dortmund. Bayern geht – wie im richtigen Leben – als Titelverteidiger ins Rennen. Die Dortmunder gieren nach Revanche, hatten sie doch mit dem zweiten Platz Vorlieb nehmen müssen. Manuel Cavada, der die Freiburgpartie aus der stabilen Seitenlage heraus betrachtet hatte, zieht sich sein weißes Paulanertrikot aus und verkehrt herum wieder an. Er hat zwar schon eine Partie bestritten, aber nun läuft er auf die Bayernspieler zu: „Ich spiele bei beiden Münchner Mannschaften.“

Bereits nach wenigen Spielzügen ist klar: Wenn die Jungen spielen, ist das gleich ein anderer Schnack – beide Teams gehören der Gruppe unter 35 an. Lautete das Gebot der Stunde bei den älteren Mannschaften noch, den eigenen Mann möglichst genau anzuschießen, kennt hier der ballführende Spieler die Laufwege und spielt Pässe in den Raum. Bei Fehlleistungen wie dem gefürchteten Querpass im eigenen Strafraum fällt die Kritik am eigenen Mitspieler bisweilen rüde aus, und auch mit dem Gegner geht man nicht zimperlich um; kaum ein Spieler wagt sich ohne Schienbeinschoner auf den Platz.

Der Spielverlauf scheint zunächst seltsam vertraut: Obwohl das Dortmundteam, für das vor allem Schüler und Studenten kicken, flotter aufspielt, liegen die Bayern zur Pause 2:1 vorn. Das macht die Routine. Bayernspieler Mauro Canziani kennt die meisten Mannschaftskameraden schon seit 1990: „Damals hatten wir auf der deutschen Schule erst ein Team Stuttgart gegründet. Als sich Stuttgart später aufgelöst hat, ist die Hälfte von uns zu den Bayern gegangen.“ Keine schlechte Anregung.

Nach dem Neuanpfiff hilft dann auch die Routine nicht mehr. Dortmund gleicht aus, doch danach wird das Spiel zusehens verbissener, Rufe nach dem Schiedsrichter häufen sich. Die Partie endet unentschieden. Kein Trikottausch. In Anbetracht der brütenden Mittagshitze sieht das Publikum davon ab, das Spielfeld zu stürmen.

In der clubeigenen Bierstube hat sich indes die U35 – Herren aus allen Berufen quer durch die Mittelschicht – versammelt, um den einen oder anderen Spielzug nachzubesprechen. „Das nennt man bei uns die dritte Halbzeit“, erklärt Rudi augenzwinkernd. „Wir sprechen die gleiche Sprache!“, rufe ich lauthals zurück und winke dem Servierfräulein zu, wie um zu betonen, dass ich weiß, was hier gespielt wird.

Später schreite ich noch einmal den Kiesweg ab, nicke dem Pförtner freundlich zu und warte gegenüber der clínica alemana, der Deutschen Klinik, auf den Bus. Auch dieses Krankenhaus, denke ich, hat schon Fußballgeschichte geschrieben. Vor vier Jahren wurde hier einmal Diego Maradona eingeliefert, nachdem er während eines Auftritts im chilenischen Fernsehen beim Tangotanzen mit der Moderatorin aus den Schuhen gekippt war – aber das ist eine andere Geschichte, die zu erklären man wieder etwas weiter ausholen müsste.

MARTIN KALUZA, 30, ist freier Journalist und lebt in Berlin. In Santiago de Chile hat er ein Jahr lang Philosophie studiert