Jedes Gramm zählt

Eine Familie auf Rädern zwischen Flensburg und Lübeck: Entlang der Ostseeküste müssen hin und wieder auch Anstiege gemeistert werden

von SYLVIA MEISE

„Drei Wochen radeln und zelten? 450 Kilometer Minimum? Verrückt!“, bescheinigt man uns Ungeübten. Pah! Am Ende zeigt unsere Tachoanzeige mit 680 Gesamtkilometern an, wie fleißig wir waren, unsere trainierten Waden beweisen, dass der Ostseeküstenradweg zwischen Flensburg und Lübeck nicht nur schnurstracks geradeaus führt, sondern auch einige knackige Anstiege zu bieten hat.

Flensburg–Glücksburg

Erst mal lassen wir fahren. Umsteigen Hamburg-Harburg steht auf unseren Tickets. Wir sind verdammt aufgeregt: Schaffen wir es schnell genug, Gepäck und Räder in den nächsten Zug zu laden? Doch die Züge fahren tatsächlich nie los, wenn einer von uns noch auf dem Bahnsteig steht. Wir lernen auch, dass nicht unbedingt ein Fahrradzug kommt, wenn man einen erwartet, und verstauen unseren Fuhrpark in zwei extra für uns Radler reservierte Zugabteile.

Noch faul vom Bahnfahren steigen wir aus und müssen gleich als Erstes einen Berg erklimmen. Ich gestehe, ich habe geschoben. Später beim Campen lernen wir unbekannte Sitten kennen. Das Zeltervolk kennt etwa faltbare Spülschüsseln, zusammenrollbare Wassercontainer und Solarduschen. Im Waschraum kriegt mein Mann wichtige Tipps: beste Biergärten im Umkreis und wo’s bessere Duschen gibt.

Glücksburg–Wackerballig

Wackerballig? Genauso klein, wie es sich anhört. Wunderschön verschnarcht. Der Sonnenuntergang ist kitschig, wir liegen im Strandkorb und essen ein Eis. Die Betten sind hart, der Herd ist klein, die Küchenecke im Familienzelt ein Chaos. Wir gewöhnen uns dennoch Rituale im Unbekannten an. Die Verpflegung kommt aus meinen Vorderrad-Packtaschen. Linke Tasche für unterwegs, rechte Tasche für Abends. Fehlt der Stöpsel im Waschbecken, muss man schneller spülen und einen Becher auf den Ausguss stellen. Jedenfalls, wer keinen Ersatzstöpsel im Gepäck hat. Kein Ersatz? Da kann die ebenso geübte wie schwerbepackte Wohnwagengemeinde nur müde grinsen. Bei uns aber zählt jedes Gramm.

Waabs–Schwedeneck

„Was? Nur eine Nacht? Lohnt ja gar nicht.“ Unser Grundstücksnachbar im Schwedeneck mag es kaum glauben. Aber er kennt das, Radler sind häufig nur für eine Nacht da. „Pumpst du noch meine Reifen auf?“ Diese Frage hätte ich besser nicht gestellt: Mit einem leisen Zopp fällt das Ventil auf die Wiese – und war verschwunden. Mein Rad war brandneu, deshalb hatten wir gerade für dieses keinen Ersatzschlauch dabei. Und das an einem Sonntag. „Ich fahr nach Kiel“, erklärt sich mein Mann bereit. „Pump doch auch mal den anderen Reifen auf“, schlägt unser kluger Sohn vor, bevor Vater sich nach Kiel aufschwingt. Und noch mal zopp! Zwei Schläuche bitte! Tage später gehören wir zu den erfahrenen Radlern, die dem Ventil ein wenig Spiel lassen, damit es arbeiten kann.

Am Horizont sehen wir eiserne Skulpturen in der See, zerzauste Figuren eines unbekannten Metallkünstlers – es sind die Silhoutten von Bohrtürmen. Vor und hinter uns am Strand lassen sich die Menschen von der Sonne brutzeln. Gespräche wabern über den Sand. Wer seinen Nachbarn nicht zuhören will, muss wohl oder übel gehen.

Schwedeneck–Ellernbrook

Kiel. Endlich! Ein paar hilfsbereite Kieler zeigen uns den Weg zum Fährschiffhafen. Gigantisch. Fähren wie Hochhäuser. Schilder weisen den Weg nach Göteborg und Oslo. Wir lassen Kiel hinter uns. Kieler Brötchen (hmm!) und Kieler Nachrichten (hmm?) begleiten uns noch ein paar Tage. Dann erreichen wir das U-Boot-Ehren-Gedenkmal. Mein Bild von schnittigen U-Boot-Kapitänen wird zurechtgerückt: Waren das arme Schweine! So viele Boote wie hier gesunken sind, muss die Ostsee ein Friedhof sein. Ein noch monumentaleres Denkmal aber erwartet uns in Laboe: das Marine-Ehrenmal. Das Pathos der Gedenkstätte erschlägt einen, doch die Aussicht aufs Meer in 60 Metern Höhe ist wunderbar. Surfer wirken so klein wie Legomännchen in einer Badewanne. Nach elf Tagen akzeptieren wir Freund Radweg als Ziel. Wir lernen Nähe ertragen, Camping ist „nie allein sein“. Ständig jemand, der an einem vorbeiläuft, hustet, guckt. Nur am frühen Morgen am Meer sind wir ein einsames Paar.

Ellernbrook–Sehlendorf

Auf dem Deich geht’s Richtung Kalifornien und Brasilien (a. d. Ostsee). Eine Art Steinwüste folgt den wohl gepflegten Tourismusanlagen. Schwer zu fahren auf dem Untergrund, auch der Strand ist eine Geröllwüste.

Als wir am späten Nachmittag unser Zelt aufbauen, fängt es zu regnen an, also wird im Zelt serviert. Unsere Nachbarn, zwei nette Radler aus Münster, erzählen, wie es war, als ihnen der Schaltzug im Nirgendwo riss, kein Ersatz aufzutreiben war und wie es dann doch noch klappte. Vorher hatte auch ich mir tatsächlich alles beschwerlicher vorgestellt. Zeltauf- und -abbau wird zur Routine, gehört dazu wie Staubsaugen zu Hause.

Sehlendorf – Fehrmarn

In Fehmarn stehen gedrungene Küstenhäuschen mit Rosenbüschen, Windräder mit der Warnung „Vorsicht Eisflug“ und alle Zeltplätze rammelvoll. Zum Glück kriegen wir auf Katharinenhof für zwei Nächte eine Ecke zugeteilt. Sympathiebonus für Biker? Erst nämlich war höchstens eine Nacht zu haben, für übrigens nur 33 Mark.

Lensterstrand–Travemünde

Richtung Travemünde wechselt die Landschaft. Klippen an der Küste, dahinter kleine Wäldchen wie bei Caspar David Friedrich. Riesenpötte, die vor uns aus dem Wasser ragen wie Titanics. Schwedenfahrer an Bord, die winken und rufen. Ach, die Menschheit eine Familie, wagt man zu glauben und winkt zurück. Da ziehen sie, die „Nils Holgerson“ und die „Peter Pan“, im zwölfstündigen Wechsel. Wir sehen sie Morgens in stolzem Weiß und wir sehen sie abends, festlich erleuchtet in der Dunkelheit.