Schlaflos in Berlin

Nein, sagen wir, die Schönhauser Allee ist unseres Wissens nach einer der wenigen ruhigen Orte in Berlin und alle anderen Leute haben es viel lauter: Eine Kurzgeschichte von WLADIMIR KAMINER

Tag und Nacht ist bei uns auf der Schönhauser Allee ein und dasselbe Bild zu sehen: Fahrende Menschen. Direkt vor unseren Fenstern rauschen sie in Zügen, Straßenbahnen und Autos, auf Fahrrädern und Motorrädern vorbei. Ununterbrochen und in alle Richtungen. Wenn wir Besuch aus Russland bekommen, empören sich unsere Gäste über den Krach. Ständig fragen sie uns, ob es nicht zu laut sei, ob man davon nicht einen dauerhaften Hörschaden bekäme.

Nein, sagen wir, das ist unseres Wissens nach einer der wenigen ruhigen Orte in Berlin, unsere Bekannten in Charlottenburg z. B. haben es viel lauter. Wir leben schon lange genug auf der Schönhauser Allee, um den Verkehr draußen nicht mehr wahrzunehmen. Das sind alles Maschinen, die nun mal Krach machen, und also klingen sie auch nicht aggressiv.

Ganz anders ist es dagegen bei unserem Freund Mischa, der in einem alten Haus in der Uhlandstraße, nicht weit vom Zoologischen Garten, wohnt. Das letzte mal besuchte ich ihn im Winter, als die schwangere Elefantin hinter der Zoomauer gerade dabei war, ihren Sohn Kiri zur Welt zur bringen. Ihre Gebärschreie verwandelten halb Charlottenburg in einen Jurassic Park. Das Geschirr tanzte auf dem Tisch, unser Gespräch kreiste wider Willen um das Thema Abtreibung.

„Die Elefanten haben es nicht leicht“, erklärte Mischa, der inzwischen ein großer Tierspezialist geworden war. „Zuerst müssen sie ihre Babys zwei Jahre lang im Bauch tragen und zwischen den ersten Wehen und der endgültigen Geburt können Monate vergehen.“ Die Mutter draußen hörte sich derweil wie eine Fliegerstaffel auf dem Tiefflug an.

„Der Rüssel war schon vor zwei Wochen zu sehen, hoffentlich ist sie bald so weit“, meinte Mischa. Nach jedem Schrei schien es mir, als würde gleich das Haus zusammenbrechen. „Allein vom Zuhören könnte man schwanger werden“, sagte ich zu meinem Freund. „Das ist noch gar nichts“, erwiderte er. „Du solltest mal bei mir im Frühling vorbeischauen, wenn drüben bei den australischen Schildkröten die Paarungszeit anfängt. Bei sich in Australien haben sie es immer im August getrieben, doch hier in Berlin haben sie ihre biologische Uhr umgestellt, wahrscheinlich um nicht aufzufallen. Das gelingt ihnen aber trotzdem nicht. Es hört sich wie eine Panzerschlacht an. Ich weiß nicht, wie sie ihre Paarungszeit überleben.“ Mischa war davon überzeugt, dass die Tierwelt neben seinem Haus der Grund ist, dass er seit Jahren keine Freundin mehr hatte.

Ein anderer Freund von uns, Kolja, wohnt in einer scheinbar idyllischen Ecke nicht weit von unserem Haus entfernt am Falkplatz im Prenzlauer Berg. Dort gibt es eine große Parkanlage, mit zahlreichen Sandkästen für Kinder, auch Bänke für die Rentner, dort können sie sich endlich in Ruhe ihrem Bier widmen – keine Autos, kein Verkehr, so weit das Auge reicht. Ganz nahe am Falkplatz steht die Max-Schmeling-Halle. Wenn dort Basketball- oder Fußballwettbewerbe ausgetragen werden, spielen alle Bewohner rund um den Falkplatz mit. Wenn ein Tor fällt, sind die Fußballfans in der Halle manchmal sogar lauter als die schwangere Elefantin im Zoo: Oft fällt dann das eine oder andere Kind von der Schaukel runter, die Rentner verschlucken sich an ihrem Bier und die Fensterscheiben ringsum erzittern.

Die Nähe zur Max-Schmeling-Halle hat aber auch Vorteile. So müssen die Anwohner sich nie Sportnachrichten ankucken, sie sind immer online auf dem neuesten Stand. Es gibt wahrscheinlich auch ruhigere Plätze in Berlin, abseits von lärmendem Straßenverkehr, wilden Tieren und ewigen Baustellen. Sie werden aber von den dortigen Bewohnern geschützt und geheim gehalten. Damit auch weiterhin kein Mensch dorthin geht.

Wladimir Kaminer liest und legt morgen abend im taz-Sommer-Salon auf (siehe Anzeige rechts)