Das große Plattensterben

Montag reist der Kanzler wieder in den Osten – in teils entvölkerte Städte. Die ehemalige Industrieregion ist ökonomisch und städtebaulich auf dem Weg ins 18. Jahrhundert

Unter Kennern hat die Apokalypse der ostdeutschen Problemstädte einen Namen: Wittenberge

Alarmierende Zahlen in aller Munde: Eine Million leere Wohnungen in Ostdeutschland, Tendenz unaufhaltsam steigend; Spitzenreiter sind Leipzig (35 Prozent Leerstand), Görlitz (48 Prozent der Altstadt), Stendal (42 Prozent im Neubau) und Halle-Altstadt (28 Prozent). Eine Regierungskommission hat die Daten als sozialpolitische Zeitbombe an die Öffentlichkeit gebracht und schlägt vor, bis zu 400.000 Wohnungen „vom Markt zu nehmen“. Seitdem gehören Vokabeln wie „Rückbau“, „Abriss“, „Plattensterben“ zum alltäglichen Sprachgebrauch.

Unter Kennern hat die Apokalypse der ostdeutschen Problemstädte sogar einen Namen: Wittenberge. Die ehemalige Industriestadt an der Elbe hat nach der „Wende“ eine der größten Nähmaschinenfabriken Europas verloren und ist seither von einem Drittel ihrer Bewohnerschaft verlassen worden. Ihr komplett leer gefallenes Packhofviertel ist bereits beliebte Kulisse für Filme, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit spielen. Vielleicht muss es eine solche Geisterstadt mitten in Deutschland erst einmal geben, um sich von der Illusion zu trennen, der Wohnungsüberhang im Osten entspräche noch irgendwie dem so genannten Schweinezyklus aus Verknappung und Überproduktion. Nein, der hat sich zur konstanten Größe mit brisanter Eigendynamik verfestigt: Man braucht vier vermietete Wohnungen, um die Ausfälle einer leeren fünften zu kompensieren, also liegt bei 15 Prozent Leerstand der ökonomische Umschlagspunkt. Ab 20 Prozent wird der Konkurs nur noch zur Frage der Zeit.

Weder dem Wittenberger Packhofviertel noch Neubaustädten wie Wolfen-Nord oder Hoyerswerda wird man etwa durch den Ersatz von „Platte“ durch „Stadtvillen“ dauerhaft helfen können: keine rettenden „Besserverdiener“, nirgends. Auch die Empfehlung, beim Abriss nicht zimperlich zu sein, weil freigelegtes Bauland „werthaltiger“ sei als eine von unnützer Substanz blockierte Immobilie, verkennt das Wesen der Sache: Wo die Menschen davonlaufen, verlieren selbst Grund und Boden alle Heiligkeit. Als rein wohnungspolitisches Problem wird sich die Krise weder erklären noch lösen lassen. Denn erstens ist der Leerstand kein Reflex auf die verrufene „Plattenästhetik“, sondern kann, wie Halle, Leipzig oder Görlitz beweisen, genauso die Altstädte heimsuchen. Zweitens lässt er sich mit dem Geburtenknick nach der „Wende“ oder allgemeinen demografischen Tendenzen nur ungenügend begründen. Auch der Nachholbedarf an Eigenheimen ist inzwischen weithin gedeckt, die Bewohnerverluste gehen aber ungehemmt weiter. Drittens – und bezeichnenderweise – sind es vor allem ländliche Regionen, die leer laufen, geradezu dramatisch in der Uckermark, in Vorpommern, in der Altmark und der Lausitz. In diesen traditionell dünn besiedelten Landstrichen war zu DDR-Zeiten mit Industrieansiedlungen (Schwedt, Stendal, Eisenhüttenstadt, Schwarze Pumpe) und hochtechnisierter Agrarwirtschaft massive Strukturförderung betrieben worden. Nun stellt ein sich selbst überlassener Markt den Status quo ante wieder her: die im vorindustriellen Schattendasein dahindämmernde Arme-Leute-Gegend. Für viele der erst unlängst aus dem Boden gestampften Industrie-Wohnstädte wird dies wohl vor allem eines bedeuten: Sie sind schlicht überflüssig geworden.

Die Krise der ostdeutschen Städte sollte als Muster wie Signal für das Ende einer Epoche interpretiert werden. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die industrielle Revolution wahre Völkerwanderungen auf die Suche nach Arbeit kreuz und quer durch Europa geschickt. Um das neu entstehende Proletariat zu behausen, waren zahllose Städte aus ihrer mittelalterlichen Beschränktheit gerissen und den neuen Produktions- und Konsumbedürfnissen angepasst worden. Nun haben, zumindest in Mitteleuropa, die auf Industriearbeit zugerichteten Lebenswelten ihre Schuldigkeit getan – was ihre neuerliche Verwandlung mit Sicherheit erwarten lässt. Während es aber in Diskursen über zukünftige Wirtschafts- und Gesellschaftsformen stets nur um die Gewinner geht, gilt den Verlierern selten die nötige Aufmerksamkeit – bis sie sich revoltierend bemerkbar machen. Oder bis sie durch massenhafte individuelle Anpassung (sprich: Auswanderung) eine neuerliche Umkrempelung der Gesellschaftsverhältnisse bewirken. Dieser Prozess ist in einigen östlichen Bundesländern angelaufen, einschließlich der Auflassung ganzer Stadtteile oder der Absiedlung bestimmter Landstriche.

Muss man wirklich erst Beispiele wie Wittenberge vor Augen haben, um die Verlorenheit mancher ostdeutschen Provinz ganz zu ermessen? Kritische Soziologen sprechen hier nicht mehr von Deindustrialisierung, sondern schon von Deökonomisierung: Wenn zum Verschwinden der Industrie und zur Marginalisierung der Landwirtschaft noch der schrittweise Abbau der Infrastruktur kommt, wenn also die Bahn erst Haltepunkte und dann ganze Linien stilllegt, wenn Sparkassen sich aus der Region zurückziehen, Schulen und Klubs geschlossen, medizinische und soziale Dienste ausgedünnt werden, die letzten Läden und Kneipen zumachen. Dann wird die Abwanderung von Arbeitssuchenden – so verheerend sie ohnehin schon ist – sich in eine panische Fluchtwelle verwandeln: Keiner will jener Letzte sein, der am Ende das Licht ausmacht.

Mehr als 1,1 Millionen Menschen sind seit 1989 aus dem Osten weggezogen. Der Sprung in die Marktwirtschaft hat den ehemaligen Industriestaat DDR zum Testgelände für eine Zukunft jenseits der herkömmlichen Arbeit gemacht. Nie zuvor war im Westen ein Strukturwandel dermaßen ungeschützt dem Selbstlauf überlassen worden. Der weithin abgefederte Niedergang des „alten“ Ruhrgebiets ist mit der kollapsartigen Preisgabe nahezu sämtlicher ostdeutschen Industrien in keiner Weise zu vergleichen. Die postindustrielle Gesellschaft des Westens als Orientierungsziel für den deindustrialisierten Osten auszugeben, gehört deshalb zu den zentralen Irrtümern der Vereinigungspolitik. Als Folge solch unsäglichen Leichtsinns hat sich östlich der Elbe nun Europas erste Folgelandschaft des entfesselten Neoliberalismus ausgebreitet.

Die auf Industriearbeit zugerichteten Lebenswelten sind nun im Osten überflüssig geworden

Um hierbei die massenhaften individuellen Verunsicherungen aufzufangen, sind vor allem soziale und kulturelle Strategien gefragt, unter Stichworten wie Entschleunigung, Entdichtung, Verkleinerung, Vorläufigkeit, Abschied. Solch notwendigem Leitbildwandel stand bislang entgegen, dass auf permanentes Wachstum gegründete Gesellschaften „Schrumpfung“ oder „Rückzug“ einem Tabu unterwerfen. Doch gemessen an den fundamentalen Umbrüchen zu Beginn des Industriezeitalters darf an dessen Ende eine neuerliche Infragestellung aller vertrauten Verhältnisse weder verwundern noch beirren. Im Gegenteil – die Krise der ostdeutschen Städte sollte ein weiterer Anlass sein, über vernünftige Rückzugsstrategien aus der Arbeitsgesellschaft bisherigen Zuschnitts nachzudenken.

WOLFGANG KIL