Der Bassist im Ersatzverkehr

Eigentlich suchten wir ein Haus mit Bahnanschluss, sagt der Neu-Mecklenburger Ernst Ulrich Deuker, früher Mitglied der Westberliner Band Ideal. Doch was tun, wenn die Bahnstrecke stillgelegt wird und man kein Auto will? Über Stillstand und Bewegung in der Provinz

von KATHARINA BORN

Nach zweihundert Metern setzt er den Kontrabass ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn, verjagt Fliegen und Bremsen. Dann hebt er das Instrument über die andere Schulter und folgt der Eichenallee entlang einem üppig bewucherten Kanalufer. Die Straße hat einmal das Bergwerk mit dem Bahnhof verbunden, über den Kanal wurden Alaun, Ton und Braunkohle transportiert. Eine Ziegelei gab es im Ort, und auch das Sägewerk, das unter dem bayerischen Investor nun schon zum dritten Mal Konkurs angemeldet hat, war von der Schiene abhängig.

Griese Gegend heißt die Landschaft zwischen Ludwigslust und dem Elbtal in Mecklenburg, so benannt nach den grauen Kleidern, die hier die armen Leute trugen. Elf Jahre nach der Wende hängen überall Satellitenschüsseln, die neuen Bürgersteige leuchten rot. Der griese Muff der Perspektivlosigkeit liegt über den geputzten Häuschen. Über den Musiker, der bei jedem Wetter mehrmals die Woche seine Instrumente zur Bushaltestelle schleppt, wundert sich hier niemand mehr.

Zum Abitur schenkten ihm die Eltern das Geld für den Führerschein. Ernst Ulrich Deuker kaufte sich stattdessen einen Bassverstärker. Das war 1973. In Paris wurde der Vietnamkrieg mit einem Waffenstillstand beendet; USA und UdSSR trafen das Abkommen zur Verhinderung eines Nuklearkrieges. Für Deuker war Musik alles und alles war Musik. Er spielte Politrock bei der Westberliner Band Linkerton und Jazz im Margo Quintett.

Und dann wurde er Bassist von Ideal. Das war 1980. Über Nacht war die Neue Deutsche Welle über die friedensbewegte Bundesrepublik geschwappt. Und obwohl die Sängerin Annete Humpe betonte, ihre Songs hätten im Gegensatz zu Müslimusik und Politrock keine Message, spiegelten ihre spröden Texte den Zeitgeist zwischen Wettrüsten, Ölkrise, Kanzlerwende, Glitterrock und Punk. „No Future mit Fun“ sei das gewesen, sagt Deuker, „ein bisschen gedankenlos vielleicht, aber immer kreativ“. Man empfand sich als Weiterentwicklung der verpönten 68er, als fantasievolle Gegenbewegung zum politischen Protest. Hits wie „Blaue Augen“, „Berlin“ oder „Keine Heimat“ fehlten auf keiner Westberliner Fete. Das Debütalbum gehörte zu den meistverkauften Platten der Achtzigerjahre.

Den Führerschein hat Deuker immer noch nicht. In Berlin hat er nie einen gebraucht. „Die Bahn ist eine gute Idee, ökonomisch und ökologisch, da stimmen alle Verkehrsexperten zu“, sagt der Bassist und klingt tatsächlich wie der Sprecher einer Bürgerinitiative. Eigentlich ist die Sache einfach: Deuker ist auf die Bahn angewiesen. Und die fährt jetzt nicht mehr.

„Lange Winter und heiße Sommer“, sagt Deukers Lebensgefährtin Gabo unter dem insektensummenden Apfelbaum und isst ein zweites Stück vom Blaubeerkuchen, den er morgens gebacken hat. Das Backsteinhäuschen mit den grünen Fensterläden liegt zwei Kilometer von der Ortschaft entfernt mitten im Wald unweit der stillgelegten Bahnstrecke. Wo genau, wollen sie nicht sagen. Westler sind in der Griesen Gegend nicht gerade beliebt und Unangepasste schon gar nicht. Wenn Deuker in den Musikschulen der Umgebung unterrichtet oder zu Bandproben nach Schwerin fährt, ist Gabo allein zu Haus.

Der Bahnhof liegt fast zwei Kilometer von der B191 entfernt, die parallel zur Schiene durch den heutigen Ortskern führt. Zwischen rostroten Gleisen blühen Schafgarbe, Disteln und hohe Gräser. Am Bahnsteig sonnt sich eine Eidechse. Ein Anwohner im lilablauen Freizeitanzug raucht auf der Veranda West-Lights und wartet darauf, dass die Frau nach Hause kommt. „Früher brauchtest du hier keinen Wecker“, sagt er. „Der erste Zug hat schon um fünf Uhr morgens gehupt.“ Über das Stellwerk und die sieben, acht Gleise habe man von Ziegeln bis zu NVA-Panzern alle möglichen Dinge transportiert. Heute hält nicht mal mehr der Schienenersatzverkehr in der abgelegenen Bahnhofstraße.

„Verräter“, hat Ernst Deuker von der Galerie gebrüllt, als unten der Kreistag die Stilllegung der Bahnstrecke Ludwigslust–Dömitz verhandelte. Der PDS-Mann Günter Rogin, erinnert er, habe geantwortet: „Ganz richtig, Herr Deuker!“ Vor der Wahl hatte Rogin der Bürgerinitiative seine Unterstützung zugesagt. Auch vom so genannten Lückenschluss zwischen Ost und West – dem Wiederaufbau der Dömitzer Eisenbahnbrücke – sei noch 1998 die Rede gewesen. Und dann wurde nach der Wahl doch für den Bus statt für die Bahn entschieden. Deuker schnaubt. „Dabei hätte der Landkreis das ganz alleine machen können, wenn er nur gewollt hätte. Die haben ja nicht mal Anträge auf Mittel gestellt.“ Im Mai 2000 fuhr der „Dömitzer“ zum letzten Mal. Die Leute der Umgebung liefen mit Trommeln und einem Transparent vorweg. Einige, erzählt Gabo, haben geweint.

Deuker trägt ein grün gemustertes, weites Hemd, wie es längst nicht mehr modern ist, und blaue Baumwollshorts. Die hohe Stirn des 46-Jährigen wirkt ein wenig gegerbt – vom Berliner Nachtleben oder von der Gartenarbeit, das bleibt unklar. Über sieben Jahre leben sie schon hier. Mit Gabos kunstvollen Fliesenmosaiken, den Vorräten aus getrockneten Pilzen und Kräutern, dem Gemüsegarten und sogar einem eigenen Froschteich ist alles nun endlich, wie es sein soll. „Wenn wir keinen Erfolg haben mit der Bürgerinitiative, dann müssen wir überlegen, hier wegzugehen“, sagt Gabo. „Wir wollten schließlich ein Haus mit Bahnanschluss.“

„Schienenvernagelt“, so will Christian Rader es mal sagen, Geschäftsführer der Ludwigsluster Verkehrsgesellschaft, die den Busbetrieb entlang der Strecke organisiert, „schienenvernagelt und ein bisschen exzentrisch“ sei Deuker. Seine Gesprächsversuche seien immer gescheitert, weil der Musiker das Thema nicht wirtschaftlich habe sehen wollen. „Man kann doch nicht immer alles nur politisch sanktionieren.“ Die Fahrer hat Rader inzwischen angewiesen, die „Provokationen und unschönen Auswüchse“ Deukers im Bus schriftlich festzuhalten, falls es einmal hart auf hart komme.

Als die Neue Deutsche Welle in oberflächlichen Nonsens abdriftete, löste sich Ideal im Einvernehmen auf – der Auftritt bei Dieter Thomas Heck kam nie zustande. Das war 1983. Die Sowjets hatten einen südkoreanischen Jumbo abgeschossen, für US-Präsident Reagan ein triftiger Grund, die Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR scheitern zu lassen. Deuker, eigentlich Mathematiker, gab nach der Trennung von Ideal Nachhilfeunterricht, arbeitete als Koch und im Pergamonmuseum. Seine Buch- und Musikprojekte, vor allem das „Optische Konzert“, der Versuch, Bilder mit Musik zu verbinden, versprachen nach jahrelanger Arbeit erfolgreich zu sein. Das war 1991. Unter der Ägide der USA brach der Golfkrieg gegen den Irak aus. Alles läuft falsch, dachte Deuker, und ich mache da auch noch mit.

„Heute würde ich das nicht mehr ganz so sehen“, sagt er. „Schließlich musste ich danach wieder ganz von vorne anfangen.“ Auf einem Biohof im Elsass lernte der Bassist das Käsemachen. Dann suchte er mit Gabo ein Haus. Immer weiter verschlug es sie weg von Berlin, per Bahn natürlich. Am äußersten Zipfel Mecklenburgs, wo die Gleise an der Elbe enden, wurden sie fündig.

Die rostigen Bögen der Brückenruine werfen noch heute ihre Schatten auf die westlichen Elbwiesen. Ein paar hundert Meter stromabwärts wurde 1992 die Autobrücke ins niedersächsische Wendland als „Brücke der Einheit“ wiederaufgebaut. Die Eisenbahner der Gegend überreichten Deuker 1997 feierlich die ersten Unterschriften, die sie kurz nach der Wende für den Wiederaufbau der Dömitzer Eisenbahnbrücke gesammelt hatten. Deuker hatte sich 1996 mit einem Leserbrief an die Lokalzeitung gewandt, um die Bahnverbindung nach Berlin mit den langen Wartezeiten zu verbessern. Bald fanden sich gegen den Abbau des Zugverkehrs Mitstreiter aus der Region. In zwei dicken Ordnern sammelt Deuker die Post der „Bürgerinitiative Bahnstrecke Dömitz“ mit den Ministerien seit 1996. Die Gemeinde Alt Karstädt hat einen Antrag auf „Unterlassung einer raumordnungswidrigen Maßnahme“ gestellt, womit die Stillegung gemeint ist. In der landesweiten „Interessengemeinschaft Flächenbahn NordOst“ haben sich verschiedene Gruppen und Gemeinden zusammengefunden. Ihre Volksinitiative hat für die Wiedereinrichtung stillgelegter Strecken, bessere Vertaktung und Anschlüsse bei Bus und Bahn mit zehntausend schon zwei Drittel der benötigten Unterschriften zusammen.

Grundsätzlich klinge die Frage nach dem Brückenbau bei der Strecke immer mit, heißt es im Verkehrsministerium in Schwerin. Dass man den Antrag auf Aufnahme in den Bundesverkehrswegeplan für 2003 gestellt habe, mache das Interesse daran deutlich. „Aber da muss man Realitäten sehen“, sagt der Pressesprecher. „Ob man eine dreistellige Millionensumme in die Brücke steckt oder in andere Projekte, bleibt abzuwägen.“ Die Bahn müsse die Fernstrecke für den Güterverkehr vom Ostseehafen Rostock bis ins Ruhrgebiet tatsächlich nutzen wollen. Doch auch bei der Bahn, scheint es, reicht die Vorstellungskraft nicht bis über die Elbe: Die Strecke sei bis auf weiteres stillgelegt, den Nahverkehr bestelle und bezahle immer noch das Land, heißt es. Und das Land meint, mit den Bussen viel Geld zu sparen. Ein bis zwei Fahrgäste sitzen pro Fahrt im Schienenersatzverkehr. Durch Studien, sagt Deuker als Sprecher der Bürgerinitiative, sei belegt, dass Busse noch schlechter angenommen werden als die Bahn. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis auch der Bus eingespart werde.

Barfuß läuft der Bassist durch das hohe Gras zum Gartentor, die Beine zerkratzt von der Blaubeersuche. Seinen Weg von der Neuen Deutschen Welle zu Selbstversorgung und Bürgerinitiative findet er nicht überraschend. Schon ganz am Anfang sei es viel um Ökologie gegangen, sagt er. Und eins müsse unbedingt klar sein: „Mit ‚Ich will Spaß, ich geb Gas‘ habe ich nie etwas zu tun gehabt.“

KATHARINA BORN, 27, lebt als freie Journalistin in Berlin