Kleine Demokraten

taz summer school (2): Politische Bildung zu den Werten des Grundgesetzes kann eine Horrorvorstellung sein

Man kann das Grundgesetz nicht einfach in die hohlen Köpfe der Schüler hineingießen

Seitdem Politiker das „Rechtssein“ vieler Jugendlicher, besonders im Osten der Republik, als Problem wahrnehmen, erlebt ein fast schon in Vergessenheit geratenes Unterrichtsfach eine Renaissance, die Politische Bildung. Die Diagnose lautet: Die rechten Kids sind nicht richtig erzogen. Die Eltern haben versagt. (Wahlweise noch mit der Begründung verziert, dass die Ärmsten ja selbst nichts dafür könnten, da sie in Kinderkrippen zwangsgetopft wurden.) Zur Therapie muss die Schule einspringen. Sie soll nicht nur bilden, sondern wieder mehr erziehen. Die richtige politische Bildung, so der Kurzschluss, formt richtige kleine Demokraten. Weil Erziehung zur Demokratie vor Rechtsextremismus schützt.

Beispielhaft brachten eine solche Sichtweise die Lehrpläne Thüringens für das Fach Sozialkunde zum Ausdruck, als sie 1991 formulierten: „Der Unterricht im Fach muss die Wertvorstellungen des Grundgesetzes vermitteln.“ Eine solche vermeintlich passgenaue Verfüllung demokratischer Werte in Schüler ist für mich freilich eher eine Horrorvorstellung als eine Möglichkeit, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Nicht, dass mir diese Werte umsympathisch wären; ich habe pädagogische Zweifel.

Zunächst halte ich es für eine programmatische Überforderung, von LehrerInnen zu erwarten, dass sie durch den Fachunterricht die Wertvorstellungen des Grundgesetzes „vermitteln“ könnten. Das Problem besteht ja wohl darin, dass die LehrerInnen die Werte der Verfassung nicht in die hohlen Köpfe ihrer SchülerInnen hineingießen können. Günstigenfalls können sie diese Werte so attraktiv darbieten, dass die Schüler sie übernehmen – mehr oder weniger. Denn Lehr- und Lernprozesse sind kommunikative Vorgänge. An deren Ende nur einer über den Erfolg entscheidet: der/die Lernende.

Zum anderen stellt sich mir die Frage: Wie rechtfertigen wir überhaupt, dass wir in die Freiheit von anderen eingreifen, um ihnen bestimmte Werte einzupflanzen? Schon die Schulpflicht, die notfalls die Polizei durchzusetzen hat, ist ein Eingriff in die Freiheit von Individuen, der guter Gründe bedarf. Der heute selbstverständlich formulierte Anspruch einer Wissens- und Wertevermittlung geht aber bereits nahe an die Grenzen des Zulässigen. Denn der Zwang innerhalb der Schule darf nicht über ein unbedingt notwendiges Mindestmaß hinausgehen. So argumentierte auch das Bundesverfassungsgericht im Kruzifixurteil. Wenn jetzt also gefordert wird, die Schule solle zu den Werten des Grundgesetzes, zum christlichen Glauben oder vielleicht auch zur historischen Mission der Arbeiterklasse erziehen, werden damit die Grenzen des Zulässigen überschritten.

Nun könnte man einwenden, die Werte der Verfassung seien nicht irgendein Erziehungsideal. Das ist sicher wahr. Aber es gibt empirische und prinzipielle Argumente dagegen, Erziehungsideale als absolut zu setzen:

Empirisch gesehen war auch das Erziehungsideal der DDR nicht irgendeines. Aus dem marxistischen Leninismus heraus wurde es vor dem Sturz der Mauer als einzig wahres Ziel dargestellt. Ihm wurde alles untergeordnet. Nicht nur die Schulerziehung, sondern darüber hinaus eine Art Rundumpädagogik für Jugendliche, vor der – idealiter – nicht einmal das Elternhaus Zuflucht bot. Heute nennen wir das gerne „Erziehungsdiktatur“.

Darüber hinaus geht es aber ums Prinzip: Tun wir denn der Demokratie überhaupt einen Gefallen, wenn wir für sie „die Wertvorstellungen des Grundgesetzes vermitteln“ wollten? Thüringens Lehrplan wollte diese in etwa so umsetzen, dass über die Werte des Grundgesetzes jedem Einzelnen normative Grundlagen affirmativ zu vermitteln waren. Eine politische Diskussion wäre demnach immer dadurch entscheidbar, ob sie dem Grundgesetz entspricht oder nicht. Richtig und Falsch wären leicht zu bewerten. Die richtige Meinung hätte, wer auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Die Demokratie jedoch lebt davon, dass nur ganz wenige Sätze normativ verbindlich gemacht werden.

Die Geschichte des Grundgesetzes ist eine Geschichte der Veränderung. Gleich zu Anfang war das Verbot der Todesstrafe heiß umstritten – das Grundgesetz drohte daran zu zerbrechen. Und ist etwa automatisch kein Demokrat, wer seine Zweifel hat, ob der so genannte Asylkompromiss, also die weitgehende Aushöhlung des so wichtigen Artikels 16 der Stein der Weisen war? Selbst der für unveränderlich erklärte Verfassungskern, die Artikel 1 und 20 der Verfassung, sind keine dogmatische Letztbegründung einer Ethik, sondern vielmehr Resultat der geschichtlichen Erfahrung, dass Demokratie stets bedroht ist.

Eine Erziehung zum idealen Demokraten, bei dem der Erzieher genau weiß, was ein Demokrat zu sein hat, ist strukturell nichts anderes als eine Erziehung nach dem Ideal des marxistischen Leninismus. Beides bietet keine Erfolgsgarantie. Glücklicherweise.

Sind wir doch froh, dass Menschen nicht als Demokraten geboren werden, sondern als Menschen, zu deren Wesen es gehört, verschiedene Fähigkeiten entwickeln zu können. Welches die Fähigkeiten sind, die die Einzelnen entwickeln möchten, können, nein, dürfen Erzieher nicht festlegen. Die Demokratie ist nicht das Himmelreich auf Erden, das allen aufleuchtet. Wie wäre es, wenn sich Pädagogik darein beschiede, jungen Menschen zu helfen, sich in einer sich rasant ändernden Welt zurechtzufinden, miteinander auszukommen. Einer Welt, von der auch wir nicht wissen, wie sie in Zukunft aussehen wird. Wahrscheinlich werden sie so am ehesten zu Churchills Einschätzung gelangen, dass die Demokratie zwar viele Fehler hat, sie aber dennoch die am wenigsten schlechte Gesellschaftsordnung ist. Nur wenn politische Bildung so offen ist, kann sie glaubwürig über konkurrierende Zukunfts- oder Gesellschaftsentwürfe streiten.

Und das wäre ein anderes Konzept als das einer demokratischen Variante der Erziehungsdiktatur. Vielleicht ein bescheideneres, vielleicht aber auch ein anspruchsvolleres. Eines, bei dem man mehr aushalten muss, bei dem auch Erziehende und Lehrende in politischen Diskussionen nur eine Stimme und nicht die Wahrheit (in Form des Grundgesetzes) gepachtet haben. Eines jedenfalls, das Lehrern nicht mehr alle Schuld für das Ge- oder Misslingen der künftigen Generation aufhalst.

J. HENNING SCHLUSS

Der Autor ist Erziehungswissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität. Die letzte taz summer school erschien am 18. Juli.