Entschädigung für verpasste Chancen

Sachsen will Menschen entschädigen, denen die DDR Steine in den Berufsweg legte. Doch das Geld reicht nicht

BERLIN taz ■ Nicht alle Fälle sind so spektakulär wie das Schicksal einiger Oberschüler in Zwickau. Weil sie mit Flugblättern gegen die Volkskammer-Wahlen protestierten, waren die 19 Jugendlichen von der Schulbank weg verhaftet worden. Wem die richtige Einstellung zum System fehlte, der hatte in der DDR keine guten Startchancen ins Berufsleben. Als erstes ostdeutsches Bundesland stellt Sachsen nun 1,3 Millionen Mark zur Entschädigung benachteiligter Schüler bereit. Nächste Woche will Sozialminister Hans Geisler (CDU) die ersten Gelder übergeben.

Nachdem eine gemeinsame Regelung im Bundesrat scheiterte, entschied sich Sachsen im Dezember für einen „Sonderweg“: Es erließ eine Verwaltungsvorschrift für besondere Härtefälle. Bis zu 10.000 Mark erhalten die Opfer. Eigentlich sollte die Auszahlung morgen beginnen. Doch das zuständige Landesamt für Familie und Soziales in Chemnitz wurde von Anträgen überrollt: 2.577 Betroffene meldeten sich bis Ende Mai bei der Rehabilitierungsbehörde. 780 Fälle sind anerkannt, weitere 1.300 werden bis Jahresende entschieden.

Das Geld wird nicht reichen, fürchtet nun Referatsleiter Hans-Jörg Bronz. „Wir haben nicht berücksichtigt, dass viele bisher keinen Antrag gestellt haben, weil sie nach dem Rehabilitierungsgesetz keine Ansprüche hatten.“ 1.500 Personen haben jetzt erstmals Entschädigung beantragt. Minister Geisler will deshalb erreichen, dass das Finanzministerium die Summe auf 1,7 Millionen Mark aufstockt.

Entschädigung erhält, wem in der DDR aus politischen Gründen der Zugang zum Abitur oder zum Studium verwehrt blieb und wer damit in seiner beruflichen Entwicklung behindert wurde. Im Rahmen der Novellierung des Rehabilitierungsgesetzes wollte Sachsen 1999 insbesondere rentenrechtliche Nachteile für verfolgte Schüler ausgleichen. Dies ist nach dem Bundesgesetz ausgeschlossen, weil „die Berechnung hypothetischer Lebensläufe über einen langen Zeitraum“ unmöglich sei. Betroffene erhalten lediglich Erleichterungen bei der Ausbildungsförderung. So gilt die Altersgrenze beim Bafög nicht. Doch: „Wer in den 50er-Jahren Probleme bekam, macht nun mit 60 Jahren keine Ausbildung mehr“, weiß Referatsleiter Bronz.

Über die Einmalzahlung entscheidet ein Beirat, dem auch Opfervertreter angehören. Die Höhe richtet sich nach der Schwere des Schicksals sowie dem derzeitigen Einkommen. Anspruch hat, wer seine Ausbildung „verfolgungsbedingt“ mindestens sechs Jahre unterbrechen musste. Unter den Berechtigten sind 90 Empfänger von Sozial- bzw. Arbeitslosenhilfe.

Die Behördenstatistiker haben die Benachteiligung in der DDR in Zahlen gefasst. Durchschnittliche Verfolgungszeit: 15,2 Jahre. Anzahl der zu berücksichtigenden Unterbrechungsjahre: 8.874 Jahre. NICOLE MASCHLER