Ritus versus Menschenrecht

In rituellen Zeremonien werden täglich rund sechstausend Frauen weltweit beschnitten. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden Genitalbeschneidungen heute vor allem in 28 afrikanischen Ländern praktiziert sowie in einigen Gebieten Asiens und im Mittleren Osten. Weltweit sind 130 Millionen Frauen an ihren Genitalien verstümmelt.

Bei achtzig Prozent der Eingriffe werden Klitoris und innere Schamlippen, partiell oder total, entfernt. Diese Art der Beschneidung bezeichnet man als Exzision. Die extremste Form ist die Infibulation, auch „pharaonische Beschneidung“ genannt, bei der auch die äußeren Schamlippen teilweise oder komplett entfernt und die verbleibenden Hautreste bis auf eine reiskorngroße Öffnung zusammengenäht werden. Sie macht etwa fünfzehn Prozent aller Eingriffe aus.

Die Ursprünge der Beschneidung reichen ungefähr vier Jahrtausende zurück. Sie wurde lange vor der Islamisierung praktiziert und sowohl bei den Römern als auch bei den Arabern durchgeführt. In Europa und den USA wurden Klitorisbeschneidungen im 19. Jahrhundert als Heilmittel gegen Hysterie und Epilepsie angewandt.

Die Vereinten Nationen versuchen seit 1979 verstärkt, die Tradition der Beschneidung zurückzudrängen. Mit der Unterstützung durch die UN-Sonderbotschafterin Waris Dirie, die in einer somalischen Nomadenfamilie aufwuchs und als fünfjähriges Mädchen dem schmerzvollen Ritual unterzogen wurde, gewann die Kampagne an Schlagkraft. Das Engagement des Fotomodells, Autorin des Bestsellers „Wüstenblume“, half, kritische Frauenorganisationen aus Afrika zu überzeugen, denen die Einmischung von EuropäerInnen und AmerikanerInnen suspekt war und die darin eine Überheblichkeit reicher Industrienationen gegenüber afrikanischen Traditionen sahen.

Auf der UN-Sondergeneralversammlung „Frauen 2000“ wurde Genitalbeschneidung erstmals von allen Delegierten als Menschenrechtsverletzung verurteilt. In Deutschland sprach sich der Bundestag im Juni 1998 fraktionsübergreifend für eine Ächtung der Praxis aus. ASTRID PRANGE

Buchtipps: Conny Hermann (Hrsg.): „Das Recht auf Weiblichkeit. Hoffnung im Kampf gegen Genitalverstümmelung“. Dietz Verlag, Bonn 2000, 208 Seiten, 29,80 MarkWaris Dirie: „Wüstenblume“. Ullstein Verlag, Berlin 1999, 188 Seiten, 18 MarkWeitere Informationen zum Thema unter www.unfpa.org/modules/goodwill/ambassadors/waris.htm