Verhungert trotz Rekordernte

In Indien findet eine makabre Ernährungsdebatte im Schatten von Hungertoten statt, während Teile einer Rekordernte verfaulen. Programm zur Armutsbekämpfung erreicht die Bedürftigen nicht, sondern nützt Beamten und Unternehmern

aus Delhi BERNARD IMHASLY

Sind Mangokerne eine Delikatesse, wenn sie zu Paste verarbeitet wurden? Oder Abfall, aus dem Verhungernde verzweifelt noch etwas Essbares pressen? Darüber wird in Indien derzeit heftig gestritten. Zeitungen und Nichtregierungsorganisationen klagen den Staat an, tatenlos zuzuschauen, wie die landlosen Konds im Stammesgürtel des westlichen Bundesstaats Orissa Mangokernpaste essen. Alle Nahrungsvorräte sind ihnen ausgegangen. Arbeit sei keine zu haben, und das öffentliche Verteilsystem von Notvorräten sei eine Chimäre, die nur in den Abrechnungen von Beamten existiere. Das stimme nicht, wehrt sich Orissas Chefminister Naveen Patnaik. Mangokerne seien Teil des Speisezettels der Urstämme wie Pilze oder Wurzeln. „Die Todesfälle gehen auf Lebensmittelvergiftung zurück und nicht auf Hunger.“

Tatsache ist, dass in den letzten Wochen im Kashipur-Unterbezirk Dutzende Menschen starben. Das Fernsehen zeigte Bewohner, allen voran Frauen, die apathisch vor ihren Hütten sitzen oder die notdürftig bedeckt auf dem Boden vor Fieber zittern. Journalisten sahen in die Sterberegister. Im August sind bei den 94 Toten des Unterbezirks mehrfach „Vergiftung“ und „Anämie“ offizielle Todesursachen . Doch meist heißt es „nicht klassifiziert“. Im Staat, der stolz auf seine Grüne Revolution ist, gehört Verhungern zu diesen nicht klassifizierten Ursachen.

Chefminister Patnaik hat das Hungergebiet noch nicht besucht, stellte aber am Montag in Delhi fest, dass das öffentliche Verteilsystem „reibungslos funktioniert“. Menschen unterhalb der Armutsgrenze erhielten eine Notration von 25 Kilogramm Reis und Weizen pro Familie und Monat. Doch laut Oberstem Gericht haben 16 der 28 Bundesstaaten, darunter Orissa, noch nicht einmal Listen der Bedürftigen aufgestellt. Und warum werden statt vorgeschriebener 73 Kilo nur 25 verteilt?

Paradoxerweise spielt sich die gegenwärtige Nahrungskrise im Schatten riesiger Getreidevorräte von 60 Millionen Tonnen ab. Eine neue Rekordernte könnte sie dieses Jahr gar auf 80 Millionen erhöhen. Doch statt das Getreide an die 300 Millionen Bedürftigen etwa in Form von „Essen für Arbeit“ zu verteilen, verfaulen 20 Prozent unter Plastikplanen oder werden von Ratten gefressen. Denn es fehlen Lagerhäuser. Der Versuch, einen Teil zu exportieren, um die hohen Lagerkosten zu senken, erlitt einen Rückschlag, als mehrere Länder ihre Kaufoptionen nach Überprüfung der Qualität zurückzogen.

Landwirtschaftsminister Ajit Singh erklärt die Situation zu Recht als Resultat von Beschäftigungsmangel und fehlender Kaufkraft. Er macht die reichen Industrienationen verantwortlich, die einerseits vom liberalen WTO-Einfuhrregime Indiens profitierten, aber zugleich ihre Landwirtschaftsprodukte weiter so stark subventionierten, dass „der indische Bauer auf keinen grünen Zweig“ kommt.

Dies ist aber nur eine Teilwahrheit. In Orissas Stammesgebieten sind die Posten der Entwicklungsbeamten seit Jahren unbesetzt. Diese sind für die Armutsprogramme verantwortlich und vergeben Aufträge für die Instandsetzung von Straßen, Kanälen und Brunnen. Eine Prüfung ergab im Fall Orissas, dass Unternehmer und Beamte Hauptnutznießer der Armutsbekämpfungspolitik sind, während die eigentliche Zielgruppe leer ausgeht. Viele Arme sind in einer Schuldenspirale gefangen. Im Dorf Panasguda, so zitierte die Times of India aus dem Untersuchungsbericht, hätten die Menschen ihre Rationenkarte dem Geldverleiher geben müssen, nachdem sie alles andere bereits verpfändet hatten. Dieser konnte dann mit den Karten den billigen Reis erstehen und für ein Mehrfaches verkaufen. Den Armen blieben nur Mangokerne.