Augenzeugen online

Unabhängige Nachrichtendienste und Chat-Kanäle im Internet lieferten in den ersten Stunden nach den Anschlägen die ausführlichsten Nachrichten

von ERIK MÖLLER

Die Server der großen News-Websites wie CNN, MSNBC und BBC waren schnell unter dem Ansturm der Zugriffe lahmgelegt. Doch schon kurz nach den Anschlägen konnten unabhängige Nachrichtendienste wie Slashdot und Indymedia ein halbwegs akkurates Bild präsentieren. So schrieb „CmdrTaco“, Herausgeber von Slashdot, gegen 9:12 Ortszeit: „Normalerweise würde ich so etwas nicht hier veröffentlichen, aber ich kann keine der Hauptnachrichten-Sites erreichen, deshalb mache ich eine Ausnahme.“

www.slashdot.org und www.indymedia.org unterscheiden sich von konventionellen Websites insofern, als jeder Besucher Nachrichten einsenden kann, die von einem Redaktionsteam ausgewählt werden. Außerdem ist es möglich, einer Meldung Kommentare hinzuzufügen, was ausgiebig genutzt wurde: Allein bei Slashdot fanden sich gegen Abend etwa 6.000 Kommentare – eine neue Form des Journalismus ohne jegliche finanzielle Interessen der Serverbetreiber, die sich zu Beginn der Katastrophe als bemerkenswert effizient erwies.

Doch schon bald gelang es den Verantwortlichen bei CNN und den anderen kommerziellen Nachrichtendiensten, die notwendigen Kapazitäten auszubauen, so dass die entsprechenden Adressen wieder Hauptnachrichtenquellen im Web waren. Um den Datenverkehr zu minimieren, wurden unnötige Grafiken vorübergehend von den Websites entfernt, die bestätigten, relevanten Informationen zum Schwerpunktthema zusammengefasst.

Es entstanden aber auch tausende privater Websites mit gesammelten Bildern und Videos, kopierten Nachrichten oder persönlichen Berichten. Eines der ersten Bilderarchive befand sich etwaauf einem holländischen Server unter der Adresse www.xs4all.nl/~menso/oh-shit/Sogar virtuelle Gedenkstätten wurden errichtet.

Als eines der wichtigsten Kommunikationsinstrumente in Krisenzeiten hat sich stets der Chat, insbesondere der so genannte Internet Relay Chat (IRC) bewährt. Bereits während des Golfkrieges und des Anschlags auf das Oklahoma-Stadtgebäude wurden in diesem dezentralen Netz aus Echtzeit-Kommunikationsservern Nachrichten ausgetauscht. (Die Protokolle sind unter www.2meta.com/chats/university/ nachzulesen) Auch jetzt griffen tausende auf die IRC-Server zu. Schnell wurden spezielle Kanäle eingerichtet – dem Netzwerk von openprojects.net beispielsweise ein Kanal mit dem Namen #worldtradecenter. Hier konnte jeder aktuelle Berichte und Mitteilungen hineinsetzen. Da sie aus einer Vielzahl von Quellen stammten, diente der Chat-Raum als Sammelstelle von Nachrichten. Wer sich dort aufhielt, verpasste sicher nichts. Bei einem derart offenen System sind jedoch Gerüchte ein Problem. Um nur die wirklich eindeutig belegten Fakten zu bekommen, gab es einen zusätzlichen moderierten Kanal, #wtc-confirmed.

Aber auch Emotionen kamen im IRC zum Ausdruck. Am verbreitetsten war eine absolute Fassungslosigkeit. „Ein verrücktes Gefühl, vor dem Fernseher zu sitzen und mindestens 5.000 Menschen sterben zu sehen“, schrieb einer. Eine Kalifornierin dagegen gab offen zu, dass sie das Fehlen der Türme des World Trade Centers mehr schockierte als der Tod der vielen Menschen. Andere erzählten von Freunden, Verwandten, die in der Nähe waren, spekulierten über Täter, die Durchführung, die Hintergründe, die Finanzierung. Auch Hetzparolen („kill those fuckin palestinians!!!!“) waren zu lesen, und Provokationen wie „OsamaBinLaden“ als Chat-Name tauchten auf. Zu der in Chats oft beobachtbaren Eskalation des Hasses kam es jedoch zunächst nicht.

moeller@scireview.de