Die Lücke wird größer

Der Kulturtheoretiker Andrew Ross warnt vor zunehmender Xenophobie der weißen US-Mittelschicht

Interview DANIEL BOESE

taz: Wie ist derzeit die Stimmung in New York City?

Andrew Ross: Es ist fast schon ironisch, dass Bürgermeister Rudi Guiliani durch seine Präsenz während der Rettungsarbeiten am meisten Respekt gewonnen hat – weit vor George Bush oder Gouverneur Pataki. Noch vor kurzem standen ihm viele New Yorker wegen seiner harten Polizeipolitik unter dem Schlagwort „Zero Tolerance“ sehr kritisch gegenüber. Nun gibt es bereits Stimmen, die nach Gesetzesänderungen verlangen, um ihm eine dritte Amtszeit zu ermöglichen. Die New Yorker selbst sind schon immer stark in ihrem Überlebenswillen gewesen. Um hier zu leben, muss man wirklich ein dickes Fell und viel Ausdauer haben.

Wie wird das Verhalten von George W. Bush aufgenommen?

Bush wird anders als Clinton kaum als eine beruhigende Kraft angesehen. Es ist sehr gefährlich, dass das Amt des Präsidenten von einer so unsicheren und unerfahrenen Person ausgeübt wird. So wie sein Vater einen Krieg gebraucht hat, um sich als Führungsperson zu profilieren, braucht auch er einen Militäreinsatz. Das weitere Geschehen wird wohl vom Pentagon und der Nato bestimmt, denn das Militär muss nach dem Angriff auf das Pentagon seinen Stolz und seine Vorstellung von Ehre wiederherstellen.

Die Zerstörung des World Trade Centers hat weltweit zu einem Gefühl der Verletzbarkeit geführt. Besteht dieses Bewusstsein auch in den USA?

Es ist tragisch, dass der Verlust der Unschuld, auch der Arroganz, in Bezug auf internationale Beziehungen für die USA in Form einer traumatischen Verletzung passiert ist – und nicht durch Bescheidenheit und Demut.

Wie hat sich die Psyche des amerikanischen Volkes durch die Anschläge vom 11. September verändert?

Ich glaube nicht, dass es so etwas wie eine amerikanische Psyche gibt. Die amerikanische Gesellschaft ist stark zersplittert. Es gibt sehr viele Bürger, die sich nicht mit dem Staat und seinen Symbolen identifizieren. Der Anschein von Einheit, den wir auch jetzt wieder sehen, wird zu einem großen Anteil von den Medien generiert. Allerdings gibt es auch einen Unterschied zwischen den Generationen: Auf den Straßen sieht man sehr viel junge Menschen, die amerikanische Flaggen umgehängt oder sich angesteckt haben. Vor 15 oder 20 Jahren wäre das nicht möglich gewesen, schon gar nicht in New York. Aber diese Generation ist in einer Mischung aus fast blindem Patriotismus und Imperialismus herangewachsen. Es gibt hier sehr viel Illusionen und Irrglauben über die Rolle der US-amerikanischen Politik in der Welt.

Die Berichterstattung in den amerikanischen Medien über internationale Ereignisse ist traditionell spärlich. Wie wirkt sich das auf das Verstehen dieser neuen Art des internationalem Terrorismus aus?

Es gibt nur einen sehr beschränkten Zugang zu Informationen über die Auswirkungen amerikanischer Politik und Wirtschaft, die nicht einseitig auf die Perspektive amerikanischer geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen ausgerichtet sind. Dieses Fenster mit kritischen Informationen wird in Krisenzeiten noch kleiner, als es sowieso schon ist. Es gibt keine Stimme im Mainstream der Medien, die über die Verantwortung amerikanischer Außenpolitik für antiamerikanische Tendenzen weltweit spricht. So gab es zum Beispiel praktisch keine Berichterstattung über die Proteste in den USA gegen den Golfkrieg, obwohl in Washington viele Tausende demonstriert haben. Während einer Krise wie dieser wird die Lücke zwischen der komplexen Realität und dem Diskurs über die Verteidigung amerikanischer Freiheit immer größer.

Vergeltung für die Selbstmordanschläge in Form eines „lang anhaltenden Krieges“ ist von Präsident Bush angekündigt. Zugleich wird die Sinnlosigkeit massiver Militäreinsätze gegen international vernetzte Terrorgruppen vollständig ausgeblendet. Gibt es Stimmen in den USA, die sich gegen einen einen solchen Militärschlag aussprechen?

Das Verlangen nach Cruise Missiles stammt eindeutig aus einer „White Anglo-Saxon Protestant“-Perspektive, die nun vor der Gefahr steht, eine Art heiligen Krieg gegen Muslime zu beschwören. Die Xenophobie der weißen Mittelschicht mobilisiert einen Krieg, der einzelne Ethnien wie „Araber“ oder „Muslime“ als Zielscheiben annimmt. So wurden alle Kriege der USA seit dem Zweiten Weltkrieg gegen Menschen anderer Hautfarbe geführt. Dennoch sind viele Bürger über einen Eingreifen durch die US-Militärmaschinerie sehr besorgt. In New York finden Antikriegsproteste traditionell am Times Square statt, weil dort die Rekrutierungsbüros der Army sind. Aber es bleibt abzuwarten, ob die Proteste gegen blinde Vergeltungsschläge auch am mittlerweile disneyfizierten Times Square noch einen Platz haben.