Blick für das Verletzte

Anfang September nahm sich der Dokumentarfilmer Theo Gallehr das Leben. Ein Nachruf  ■ Von Cornelia Kurth

Als der 1929 geborene Theo Gallehr Mitte der 80er Jahre von Eimsbüttel ins bunte Ottensen zog, musste er nicht viel dazu tun, um schon nach kurzer Zeit stadtteilbekannt zu sein. Es reichte die Art, wie er gelassen durch die Straßen schlenderte, in einem langen offenen Mantel, auf dem Kopf immer seinen Hut, unter dem rötlich-graue Locken hervorsahen und ein vollbärtiges Gesicht mit unverkennbar irischen Zügen: Ja, er schlenderte, obwohl er an zwei Krücken ging.

Er hatte nur ein Bein, seit seinem 15. Lebensjahr, als ihn die einzige Bombe traf, die während des Zweiten Weltkrieges auf sein Heimatstädtchen Lahr im Schwarzwald fiel, ein trotziger Luftwaffenhelfer, der sich während eines Alarms einfach auf den Nachhauseweg machte und damit zugleich auf den Weg in eine ganz bestimmte Art von Einsamkeit, die seine Arbeit als Filmemacher, Hörspielautor und Künstler zeitlebens ebenso geprägt hat wie sein Verhältnis zu den Menschen.

Nur wenige in seiner Nachbarschaft wussten, dass er 1970 und 1972 den Grimmepreis für seine umstrittenen politischen Dokumentarfilme bekommen hatte, dass einige seiner späteren dokumentarischen Hörspiele ebenso wie einige seiner Filme erst dann in Wiederholungen unzensiert gesendet wurden, nachdem auch sie Preise eingeheimst hatten. Wohl aber wussten viele, dass er Objekte aus zufällig gefundenen Holz- und Metallstücken zusammenbaute, oft kleine Türen, schöne, die so fest mit Holz, Draht oder Seilen verschlossen waren, als seien es Türen zu verbotenen Paradiesen oder grausamen Abgründen.

In den 60er Jahren gehörte er zu den ers-ten Filmemachern, die die soziale Wirklichkeit in Deutschland „von unten“ einfingen, die in geduldigen Langzeitbeobachtungen die „kleinen Leute“, um die es ging, selbst zu Wort kommen ließen und mit Kamera und Mikrofon ihren Alltag begleiteten. Vor einigen Jahren wiederholte der NDR den retrospektiv geradezu komischen Film Landfriedensbruch (1967), in dem eine Gruppe Hamburger Studenten den Sturz des Denkmals vom brutalen Afrika-Kolonialtyrannen Wissmann plant und in grandioser Wortgewaltigkeit an der praktischen Durchführung scheitert.

Es entstanden unter anderem auch zwei Filme über den Arbeiterkampf während der Ruhrgebietskrise, die den Überlebenskampf der Stahlarbeiter so erschreckend unmittelbar einfangen, dass Theo Gallehr mit Rote Fahnen sieht man besser eine Zeit lang als Stern am Himmel des engagierten Dokumentarfilms galt, der einen Moment heller leuchtete als alle anderen, aber auch schnell verbrannte, während der Kollege Klaus Wildenhahn etwa, oder auch sein Schüler und Mitarbeiter Rolf Schübel kontinuierlich weiterhin ihre Bahn zogen.

Theo Gallehr stieg aus, ohne selbst eine ideologische Begründung dafür anzubieten. Ebenso, wie er vielen Menschen ein kluger und hingebungsvoller Freund oder Geliebter sein konnte, um sich dann abrupt abzuwenden, ebenso rabiat stürzte er sich in intensive Arbeiten, die er dann scheinbar unberührt hinter sich lassen konnte.

Damals, als den 15-Jährigen die Bombe traf, hatten sie ihn im Krankenhaus schon in die Sterbekammer geschoben. Es war seine Mutter, die ihn energisch zurückriss in ein seltsam vorläufiges Leben, von dem es jahrzehntelang hieß, er werde es kein weiteres Jahr mehr überleben. Mit Absicht trug er kein Holzbein, sondern mutete denen, die seine Nähe suchten, immer auch die Erkenntnis zu, dass er ein Verletzter war, mit einem eigenen Blick für das Verletzte.

Von seinen Fundstück-Kunstwerken hängt eine Auswahl im Vogel, seiner Ottensener Stammkneipe, was ihm zu seinem Vergnügen freien Wein und freies Essen auf Lebenszeit einbrachte. Solche einfachen Dinge hielt er schließlich für wichtiger als den vergeblichen Versuch, durch Film oder Hörspiel die Welt zu verändern.

„Wenn ich tot bin, dann bin ich da angekommen, wo ich sein will“, sagte er, als er nicht mehr mit den Krücken gehen konnte. In diesem September hat er sich das Leben genommen.