PARADOX: ATOMKRAFTWERKE KÖNNTEN ESKALATION VERHINDERN
: Reaktoren gegen den Krieg

Atomkraftwerke sind aus vielerlei Gründen gefährlich. Die Erkenntnis ist nicht neu. Viele Reaktorkuppeln sind nicht gegen Flugzeugabstürze ausgelegt. Auch diese Tatsache ist bekannt. Deshalb fordert die Anti-Atom-Bewegung schon lange und zu Recht die schnelle Stillegung der AKWs. Abgelehnt wurde die Forderung bisher mit dem Hinweis, eine Flugzeug-Reaktor-Kollision sei ein völlig unwahrscheinliches und deshalb zu vernachlässigendes Restrisiko.

Jetzt kommen die Risikoanalysten zu neuen Einschätzungen. Nach dem 11. September und in einer weltpolitischen Situation, die sich noch weiter aufheizen kann, wird auch über die Folgen eines gezielten Angriffs auf Reaktoren nachgedacht. AtomkraftgegnerInnen fühlen sich bestätigt, weil ihre Warnungen endlich ernst genommen werden. Es scheint sogar möglich, dass die aktuelle Diskussion das derzeit im Bundestag beratene Trittin’sche Atomgesetz noch einmal in Frage stellt. Atompolitisch gesehen also eine positive Entwicklung.

Aber es geht nicht nur um Atompolitik. Das stetige Warnen vor den im Anflug auf die AKWs befindlichen Flugzeuge ist Teil einer öffentlichen Debatte, die Feindbilder und Bedrohungsszenarien aufbaut. Je größer die Ängste in der Bevölkerung vor den Folgen terroristischer Anschläge, umso leichter hat es Otto Schily bei seinen Gesetzesverschärfungen. Am Ende könnte jeder, der behauptet, dass er besonders anschlagsgefährdet ist, mit besonderem staatlichem Schutz und der dafür notwendigen Einschränkung der Grundrechte seiner KritikerInnen rechnen. Der neu gewählte CDU-Landrat von Lüchow-Dannenberg hat schon davor gewarnt, „dass sich radikale Atomkraftgegner mit religiösen Fanatikern zusammentun und Sprengstoffanschläge auf den Castor verüben“. Leicht auszumalen, wie sich die Polizei angesichts solcher Gefahrenprognosen beim nächsten Transport nach Gorleben verhalten wird.

Die ganze Diskussion erinnert ein wenig an die Forderung, zur Senkung der Zahl der Verkehrstoten auf Alleen statt der Verschärfung des Tempolimits lieber alle Bäume zu fällen. Der Aufbau von Flugabwehrgeschützen an allen Atomanlagen, den jetzt auch Lothar Hahn von der Reaktorsicherheitskommission fordert, ist letztlich Kriegsvorbereitung. Das Argument, ein Land mit Atomkraftwerken sei strukturell nicht kriegsfähig, heißt ja in seiner schaurigen Umkehrung, dass der Atomausstieg Voraussetzung für den Krieg ist. So gesehen bin ich ganz froh, dass die Existenz der AKWs die Bundesregierung vielleicht zwingt, eine weniger eskalierende Politik zu betreiben. JOCHEN STAY

Der Autor ist Sprecher der Anti-Atom-Kampagne „X-tausendmal quer“