Endlich Ruhe im Humlepark

Von wegen große Freiheit! Von wegen antibürgerlich! Ein mit 50 Jahren Verspätung veröffentlicher Pippi-Langstrumpf-Band zeigt die Heldin unserer Kindheit als Polizeispitzel. Am besten ignorieren

von STEFAN KOLDEHOFF

Natürlich war ich auch in sie verliebt – damals. In alle beide sogar: Erst in Annika – weil die immer so zurückhaltend lächelte. Irgendwann dann aber auch in Pippi selbst – weil die einfach klasse war. Sie hatte keine Eltern, die Vorschriften machen konnten. Sie musste nicht in die Schule gehen. Sie war so stark, dass ihr keiner was konnte. Kurzum: Für dieses Mädchen galten keine Regeln. Später sollte ich lernen, dass eine solche Lebensweise „antibürgerlich“ heißt.

Fast noch toller war Pippis Vater, Käpt’n Efraim Langstrumpf. Ein dicker Pirat mit eigenem Schiff, der ab und an mal in Pippis Villa Kunterbunt vorbeisah und neue Goldstücke mitbrachte. Ein gesellschaftlicher Außenseiter – aber das wusste ich damals auch noch nicht. Ich habe einfach nur alle Pippi-Langstrumpf-Bücher gelesen, geliebt und irgendwann auswendig gekonnt.

Und jetzt diese maßlose Enttäuschung. Pippi ist gar nicht so, wie ich immer gedacht hatte. Sie ist nicht frei, sie ist nicht unabhängig – und schon gar nicht antibürgerlich. Im Gegenteil: Pippi Langstrumpf ist tatsächlich eine obrigkeitshörige Spießerin und eine Denunziantin und ein Polizeispitzel noch obendrein. Von bürgerlichem Ungehorsam, von grenzenloser Freiheit keine Spur. Mit mehr als fünfzig Jahren Verspätung ist jetzt im Friedrich Oetinger-Verlag eine bislang unveröffentlichte Pippi-Langstrumpf -Geschichte erschienen, die das wahre Gesicht der Heldin enthüllt. Vor dem Kauf dieses Buches sollten in jeder Buchhandlung große Schilder warnen.

Die Handlung von „Pippi im Park“ ist in einem Satz erzählt: Pippi liest in der Zeitung, dass sich im Humlepark in Stockholm Rowdys herumtreiben, derer die Polizei nicht Herr wird, verlegt die Villa Kunterbunt kurzerhand dorthin, fängt und fesselt die Stadtstreicher – Außenseiter wie ihr Vater – und ruft schließlich sogar noch selbst die Polizei an. „Hier ist Pippi Langstrumpf. Ich hab bei Floras Hügel einen Haufen Rowdys zusammengeschnürt“, teilt sie dem diensthabenden Hauptkommissar mit, den sie schließlich allen Ernstes fragt: „Soll ich sie zur Polizeistation tragen oder könnt ihr herkommen und sie abholen?“

Das soll Pippi Langstrumpf sein? Meine Pippi Langstrumpf, die vorher Polizisten aufs Dach der Villa Kunterbunt geworfen hat und mit Landstreichern durch die Wälder gezogen ist? Die jetzt als erzreaktionärer Terminator mit roten Zöpfen den Satz sagt: Endlich würden „Ruhe und Frieden im Humlepark herrschen“? Ruhe und Frieden und Pippi Langstrumpf? Absurd.

Warum aber erscheint jetzt dieses Buch? Habe ich mich tatsächlich all die Jahre geirrt? Ist Pippi vielleicht einfach mit der Zeit immer reaktionärer geworden – schließlich dürfte sie inzwischen auch mein Alter haben? Oder geht es dem Oetinger-Verlag so schlecht, dass er einfach um jeden Preis einen neuen Titel seiner Erfolgsgarantin Astrid Lindgren brauchte? Beides nicht, sagt die Sprecherin des Verlages in Hamburg, in dessen Telefonanlage das Pippi-Langstrumpf-Lied läuft. Entstanden sei die Geschichte bereits 1949, also nur drei Jahre nach dem ersten Pippi-Buch, als Zeitschriftenartikel zum Schwedischen Kindertag. Erst jetzt aber habe sich Lindgrens schwedischer Originalverlag zur Herausgabe in Buchform entschlossen, und weil man der deutsche Lindgren-Exklusivverlag bleiben wolle, habe Oetinger mitgezogen. Viel geworben werde für das Buch allerdings nicht.

Auch zwischen den Zeilen ist deutlich zu hören, dass der Verlag selbst nicht sehr glücklich mit der Entscheidung ist. Nach kurzem Überlegen sagt seine Sprecherin: „Mir ist die alte Pippi auch lieber.“ Ich dagegen habe mich entschlossen, diese Unterscheidung nicht mitzumachen und das neue Pippi-Buch einfach gar nicht weiter zur Kenntnis zu nehmen. Pippi und die Polizei – für mich findet dieses Kapitel einfach nicht statt. Für mich bleibt sie die Piratentochter.

Astrid Lindgren: „Pippi im Park“. Friedrich Oetinger Verlag, Hamburg, 2001. 19,80 DM