„Öfter mal was Neues wählen“

Laubenpieper, Schlagersänger und einen Sanitärunternehmer drängt es in die Politik. Insgesamt 27 kleinere Parteien sind zu den Wahlen am Sonntag zugelassen. Das Spektrum geht weniger von rechts nach links, mehr von alt nach jung

von MICHAEL DRAEKE

Als der Bundestag Helmut Schmidt 1982 das Misstrauen aussprach, stand Jörg Blichmann auf dem Schulhof und klebte mit dem Ohr am Transistorradio. Der 15-Jährige verfolgte angespannt, was mit seinem sozialdemokratischen Vorbild geschehen würde. Wenn ihn die Politik wieder einmal ärgerte, schrieb er Briefe an die Abgeordneten und einmal sogar an „den Kanzler“ persönlich. Als Antwort erhielt er „nur Larifari-Briefe“, das wurmte den jungen Mann noch mehr.

Mittlerweile ist Jörg Blichmann 34 Jahre alt und selbst im Geschäft. Gemeinsam mit Freunden gründete er aus Enttäuschung über die etablierte Politik seine eigene Partei. Mit professioneller Miene sitzt er nun im schwarzen Lederstuhl in der Sanitärfirma Noelle und Sohn, die er gemeinsam mit seinem Bruder führt. Im Vorraum liegen Waschbecken und Badezimmerarmaturen, an der Wand hängen zwei Uhren, die die Uhrzeit in Tokio und New York anzeigen. Sein kleines Büro ist gleichzeitig der Arbeitsplatz des Bundesvorsitzenden der Partei „Die Flut“. „Als Partei ist man gleichberechtigt mit den Großen, so dass man auch vernünftige Antworten bekommt“, sagt der dynamische Mittdreißiger mit Genugtuung. Der etwas archaisch anmutende Name „Die Flut“ stehe für „eine Kraft, die Neues ermöglicht“.

Die Ziele sind ehrgeizig: Mit elf Mitgliedern möchte die Partei an der Bundestagswahl 2002 teilnehmen. Zunächst kandidiert Jörg Blichmann jedoch als Spitzenkandidat im Wahlkreis 07 Steglitz-Zehlendorf für das Abgeordnetenhaus. Wenn er über seine politischen Ziele ins Schwadronieren gerät, findet er kaum Punkt und Komma. Dennoch ist sein Programm noch recht dünn: „Die Flut“ fordert unter anderem die Abschaffung der Sektsteuer, die Beendigung der Massentierhaltung und weniger rauchende Kinder. 30 bis 50 Prozent der Wähler seien unzufrieden mit den großen Parteien, ist sich der Kandidat sicher, „die sollen mal was Neues wählen“.

„Die Flut“ ist eine von insgesamt 27 Parteien, die der Landeswahlleiter für den 21. Oktober zugelassen hat. Das Spektrum lässt sich mit Dimensionen wie rechts und links kaum mehr fassen. Zwischen Kommunisten auf der einen Seite sowie NPD und REPs auf der anderen drängeln sich Jugendvertreter wie „jetztWIR“, Seniorenlobbyisten wie „Die Grauen“, die wirtschaftsfixierte „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“ genauso wie die „Partei der Arbeitslosen und sozial Schwachen“ oder die klassischen Anwälte der Bürgerinteressen von der „STATT-Partei“.

Am schärfsten die Klientel im Auge hat die „Wählerinitiative Bürger und Kleingärtner (WBK)“, der politische Arm der Schrebergarten-Guerilla. Die Laubenpieper sind kommunalpolitisch bereits alte Hasen: 1995 knackten sie die 1-Prozent-Hürde, 1999 lief es schon nicht mehr so gut. Der Spaßfraktion dienen sich in Friedrichshain-Kreuzberg gleich zwei Vereinigungen an: die „Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands (APPD)“ und die „SED“ mit ihrem Zugpferd Norbert Hähnel, bekannt als „der wahre Heino“. In den 80er-Jahren tourte er mit diversen Punkbands als selbst ernanntes Original des Enzian-Interpreten. Und die Liste der Parteien hält noch weitere Kuriositäten parat. Etwa die letzten Streiter wider die Rechtschreibreform: In Tempelhof-Schöneberg kandidiert die „Berliner Partei für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege (BPR)“. Ihr Spitzenkandidat Detlef Mahn hat bereits Erfahrung in der politischen Arbeit. Als Verordneter der „Republikaner“ saß er von 1992 bis 1995 in der Friedrichshainer Bezirksversammlung. Die Jugendarbeit scheinen die Streiter für die alte Schreibe vernachlässigt zu haben: 55,3 Jahre beträgt der Altersdurchschnitt der Kandidatenriege und hält damit den Rekord. Ganz auf Altersweisheit setzen auch die „Republikaner“: ihr Spitzenkandidat ist 81.

Die Chancen für die kleinen Herausforderer stehen jedoch schlecht. Gerade in Krisenzeiten wie diesen schätzt der Wähler nicht die Experimente. Jörg Blichmann glaubt dennoch an den Erfolg. Für die Zeit nach dem 21. Oktober gibt es bereits feste Szenarien. „Wenn es klappt, werden wir mit den anderen Parteien Koalitionsverhandlungen aufnehmen“, sagt der Spitzenkandidat lächelnd, aber ohne Ironie.