In Paradoxien und Parataxen

Zu Dietmar Kampers 65. Geburtstag ist eine Festschrift erschienen, die zu schwer ist für den leidenschaftlichen Lehrer

Festschriften sind obszöne Veranstaltungen. Da wird einer zur Festsau erklärt, um ihn anschließend am Spieß zu braten. So funktioniert der Wechsel akademischer Generationen: Den Ehrenplatz in den Festschriftregalen gibt es, damit man endlich Platz macht für seine Schüler. Die Kamper-Festschrift hat 629 Seiten, ein Namensregister von Achill bis Žižek und ist ziemlich hässlich anzusehen. Im Netz der Freundschaften feiern die Söhne und Brüder den 65-Jährigen zu Tode.

Es hat schon was hundsgemein Akademisches, Dietmar Kamper über 34 Seiten an Niklas Luhmann zu messen („Luhmann baut Dämme, Kamper lernt schwimmen“, Bernd Ternes). Aber Dietmar Kamper hat vielleicht gar nichts dagegen einzuwenden. Vielleicht gefällt ihm seine Festschrift auch als ultimatives Beweisstück für akademische Entropie. In ihrer leiblichen „Schwere“ zumindest – für Kant übrigens hervorragendes Beispiel jener „behutsamen Erdichtung“, die man „synthetisches Urteil“ nennt – gehört diese Festschrift unbedingt zu Dietmar Kamper. Der Soziologie-Professor an der Freien Universität Berlin ist der leibgewordene Unterschied, den die deutsche Sprache zwischen „schwer“ und „wichtig“ zieht. Einstmals Sportlehrer, ereilte ihn die Schwere sozusagen als rettendes Akzidens. Und als Widerspruch: „Mein Schreiben ist produktiver Widerstand gegen die Schwere.“

Zuletzt sah ich ihn vor fast zwei Jahren. Da stand er einfach so da – zurückgenommen zwischen den beiden Kunstgeschöpfen Eva & Adele und doch sehr anwesend. Wie immer erinnerte er sich unmittelbar an seinen einstigen Schüler, so als wäre man ein Gespräch. Zwei Tage später kam ein Brief. Es war ein deutlicher Text zu dem Kunstgeschöpf Eva & Adele. Er handelte vom Streit der Illusion gegen die Simulation, vom künftigen Sieg des „fleißigen“ über den „faulen“ Zauber oder aber von der Alternative: dem Verschwinden des Menschen.

„Spielen zu können sogar bis zu dem Punkt, dass einem übel mitgespielt wird, ist für den Menschen faszinierend“, schreibt Kamper für Eva & Adele. Er weiß das aus eigener Erfahrung. Klaus Laermann spielte ihm im „Merkur“ einst übel mit. Zwar war von Laermanns Aufsatz gegen Kamper schon damals nur der schöne Titel („Lacancan und Derridada“) des Aufhebens wert – in Deutschland reichte dies gleichwohl, um Kamper den Nacken zu brechen. Für arme Germanistenköpfe war er seitdem das Synonym für wirre Franzosentheorie. Sachlich völlig zu Unrecht übrigens – Literarizität bei Derrida und Lacans Tanzschrift ist in Deutschland eher Sache für Philologen. Doch wie auch immer: Seit „Lacancan und Derridada“ ist Dietmar Kamper in manchen universitären Kreisen nicht mehr hoffähig. Nicht zuletzt wohl, weil sein Königreich die Theorie ist.

Und dabei wird in seinen Seminaren – anders als bei den Laermännern – ganz feudal gestritten. Seine Colloquien sind seltene Glanzstücke universitärer Streitkultur. Eine Erinnerung: ein Posthistoire-Colloquium (avant Fukuyama) Mitte der Achtzigerjahre. Die streitenden Stimmen sind bis heute zu hören. Schneidend allemal Richard Faber, er verließ damals den Saal, weil der historische Apokalyptiker des Abendlandes, Oswald Spengler, in einem Vortrag als Visionär gefeiert wurde. (Natürlich war Faber bald wieder dabei). Visuell eindringlich Ulrich Raulff, der für Kampers Colloquien sogar seinen Olymp verließ – die Berliner Staatsbibliothek, über deren Eros er jahrelang eifersüchtig und autoritär wachte. Von Kamper ging Raulff damals zur FAZ, die französischen Historiker der Annales-Schule im Gepäck. Dabei auch die beiden großen Dandys des alten Westberlin, Rudi Thiessen und Nikolas Sombart – als junger Student lernte man hier, dass Denken urban oder gar nicht ist. Norbert Bolz, natürlich. Der Jakob-Taubes-Adlatus schnappte bei Kamper mit wehenden Haaren nach Frischluft und lernte im Streit seine Simulationen. Dietmar Kamper scharte schon immer am liebsten seine loyalen Gegner um sich: Die Hegelianer, die Derridaisten und jene, die die historischen Endzeitanalysen seines Freundes Baudrillard gern für endgültig erklären.

Er selbst aber – immer auch adornitischer Zivilisationskritiker wider Willen – will anders denken. In Paradoxien vielleicht – das wird gestern wie heute in den Feuilletons als unkonkret missverstanden. In Parataxen sicherlich – der leidenschaftliche Moderator Dietmar Kamper zielt auf Differenzlinien. Vor allem aber zeichnet ihn ein gnostischer Glaube an den Zivilisationsprozess aus. Der historische Anthropologe Dietmar Kamper denkt Zivilisation linear und gnadenlos auf ihr Ende hin: Der Abschied vom Körper ist „das jüngste Gericht, das die endlich zivilisierten Menschen sich selbst machen“.

Kamper protestiert dagegen. Deswegen ist er nicht nur Philosoph, sondern vor allem philosophischer Lehrer. Man geht in seine Seminare, um Wendezeiten als Endzeit zu denken, und entscheidet sich dann doch lieber dagegen. Gegen die Festschrift. Gegen das Opfer des Lehrers. Und fürs unbequeme Diktum der Fantasie: „Ich werde nicht gewesen sein“ (Kamper).

FRITZ VON KLINGGRÄFF

„Was kostet den Kopf? – Dietmar Kamper zum 65. Geburtstag“. Hg. von Herbert Neidhöfer und Bernd Ternes, Tectum Verlag, Marburg 2001, 632 Seiten, 39,90 DM