Würdig wie Walser wird man so nicht

Zuerst voller Zweifel, dann im Sprinter nach Frankfurt zur Buchmesse und schließlich trotz guter Ratschläge von Walter Kempowski nicht auf den rechten Pfad zurückzuführen: Warum sich ein Schriftsteller nie verführen lassen sollte, Bücher zu klauen für „Benjamin von Stuckrad-Barres Lesezirkel“ auf MTV

Der Kameramann möchte nur noch eine Tüte rauchen und sich ins Bett legen

von FALKO HENNIG

Eigentlich hätte ich gleich ablehnen müssen, als die Dame am Telefon fragte, ob ich für MTV auf der Buchmesse Bücher klauen würde. Es gibt ja eine Menge Autoren, die sich dem Fernsehen entziehen, Max Goldt und J. D. Salinger zum Beispiel. Aber deren Bücher gehen auch besser. Der Verkauf meines ersten Romans tröpfelte, und der Verleger hatte mir versichert, dass er nur mir zu Gefallen nachdruckte. Ich wollte mich also mit der Dame treffen, bevor ich mich entschied.

Die Büros der Produktionsfirma lagen in Kreuzberg am Wasser, die Sendung könne ich gar nicht kennen, erfuhr ich, die sei ganz neu konzipiert und heiße „Benjamins von Stuckrad-Barres Lesezirkel“. Die Redakteurin erwähnte eine Rubrik von Walter Kempowski, in der er je ein wichtiges Buch vorstelle. Außerdem versprach sie mir, dass kein Kommentator-Ton über die Aufnahmen gelegt werde, ich könne die mit versteckter Kamera gefilmten Bilder selbst besprechen. Aber richtig überzeugte mich ein anderer Punkt: Ich könne mein Buch zeigen. Respekt vor den Autoren, die so etwas auszuschlagen in der Lage sind. Und so saß ich kurz nach fünf in der S-Bahn, dann im Sprinter nach Frankfurt am Main. In der FAZ las ich im Speisewagen über Angehörige der im damals osmanischen Bulgarien lebenden Gagausen. Was es alles gibt: Gagauz Yeri, der Ort, wo die Gagausen leben. Ob die auch einen Nationaldichter haben? „Denk ich an Gagausien in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“ Interessante Details auch zu Naipaul: „Dass der Nobelpreis ihn arroganter machen könnte, steht nicht zu befürchten, denn da war nach oben nicht mehr viel Platz.“

Dann bin ich schließlich vor Halle 3 der Buchmesse, ungefähr eine Million Mal muss ich über den Platz laufen, über die Kamera steigen, Split Screen, Schuss und Gegenschuss, Treppen hoch und runter. Erst dann kann das eigentliche Klauen beginnen.

Ich stehle ein Plakat mit der Aufschrift „Diebe haben keine Chance“ und eine Tintenschnecke als Handpuppe. Die Kameras haben ja jetzt so kleine Bildschirme, darauf sehe ich meine durch den Schlafmangel noch schwarzen Augenringe: eindeutig ein Verbrecher. Auch beim Alexander Fest Verlag klappt das Klauen problemlos, doch da krümmt sich der Kameramann auf dem Boden, nur einen Meter von Joachim Fest entfernt. Jemand hat ihm einen Ellenbogen gegen die gebrochene Rippe gestoßen, die er sich jüngst beim Skateboardfahren zugezogen hat, das kommt davon.

Ungefähr eine Million Mal muss ich über den Platz laufen, über die Kamera steigen

Wir laufen hin und her, „Alkor“ von Walter Kempowski will ich unbedingt noch stehlen. Doch als ich, bereit zu meiner Untat, zum Stand des Knaus Verlages komme, sitzt unter vielen „Alkor“-Bänden Herr Kempowski selber. Er bittet mich und den Kameramann an den Tisch und schenkt mir das Buch. Als ich ihm von meiner eigentlichen Absicht erzähle, fragt er: „Immer nur klauen?“ Ob ich nicht mal was anderes machen wolle, vielleicht den Spieß umdrehen und Gutes tun? Bettler beschenken und so? Ich erwähne den Jongleur, dem ich fünf Mark gegeben habe, aber Kempowski lässt das nicht gelten: „Wie lange ist das schon her?“ Er will mich auf den rechten Pfad zurückführen. Der Bertelsmann-Klub stelle jetzt Geld zur Verfügung, also sei er gerade flüssig, viermal im Jahr soll das Seminar stattfinden, er suche noch einen Kursleiter. Ich bin zu müde, um das großartige Angebot zu würdigen, und schon ist die Chance vertan: Na, wenn ich so schwer von Kapee sei, lieber doch nicht. Friedrich Schorlemmer lässt sich „Alkor“ signieren, Herr Kempowski reicht ihm ein kleines Büchlein: „Sie haben so wunderschöne Locken und können hier doch bestimmt ein Selbstporträt hineinzeichnen?“ Wir verabschieden uns.

Nun beginnt mein Unbehagen zu überwiegen, wird mir die Unwürdigkeit bewusst. Martin Walser lassen sie bestimmt immer durch den Wald gehen, der muss nicht vor Polizisten davonlaufen. Jean Genets Tagebuch des Diebes kann ich wegen des lädierten Kameramannes nicht mehr stehlen. Irgendwas soll ich aus Rücksicht auf ihn klauen, es ist dann auch irgendein dtv-Buch, naja. Beginne alles überzuhaben, entsprechend fahrig meine Ausführungen im Schlussinterview. Der Kameramann möchte nur noch eine Tüte rauchen und sich ins Bett legen.

„Alkor“ im Sprinter, zwischendurch ein Bier und Erbsensuppe. Dass jemand schlau und gebildet ist und trotzdem Humor hat, ist doch sehr erfreulich, einfach Lesespaß. Schade, dass keine Bilder enthalten sind, ich hatte mich schon gefreut. So eine Stelle hätte ich bei Kempowski nun aber auch nicht vermutet: „Zum Umblättern befeuchtete er die Finger an der Vagina seiner Frau.“

„Benjamin von Stuckrad Barres Lesezirkel“, heute Abend um 22 Uhr auf MTV