Pumporgel der Prärie

Das Harmonium galt als „Synthesizer des 19. Jahrhunderts“, dann kam es aus der Mode. Jetzt wird es wiederentdeckt: in Pop, Folk und Weltmusik

von CHRISTOPH WAGNER

Komponisten waren früh fasziniert vom ersten Instrument der Moderne: Von Hector Berlioz, Camille Saint-Saëns und Georges Bizet über Franz Liszt und Leoš Janáček bis zu César Franck und Max Reger – alle schrieben Noten für den „Synthesizer des 19. Jahrhunderts“. Anfang des 20. Jahrhunderts besann sich dann die Avantgarde auf das Instrument. Bei Konzerten, die Arnold Schönberg und sein „Verein für musikalische Privataufführungen“ in Wien nach dem Ersten Weltkrieg organisierte, kam das Harmonium regelmäßig zum Einsatz.

Doch zu diesem Zeitpunkt hatte die Popularität des Instruments ihren Zenit schon überschritten. Seine Blütezeit war Ende des 19. Jahrhunderts, als es zu einem Merkmal bürgerlicher Wohnkultur aufstieg und zeitweise beliebter war als das Klavier. Sein Ort war der Salon, wo man Gäste empfing, Besitz vorzeigte und Hausmusik pflegte.

Damals galt das Harmonium noch als eine revolutionäre Erfindung. Erstmals in Europa machte es von einer Technik Gebrauch, die ursprünglich aus Asien stammte: dem Tonerzeugungsprinzip der frei schwingenden Stimmzunge. Das funktionierte so: Mit zwei Fußpedalen wurde Luft in Blasebälge gepumpt, was dem Harmonium im Englischen den Namen pump organ – also „Pumporgel“ – einbrachte. Mittels Tasten wurde der Luftstrom aktiviert, der Metalllamellen in Schwingung versetzte, die den Ton erzeugten.

Gegenüber der Orgel hatte das Harmonium einen Vorteil: Es konnte Töne dynamisch gestalten, weshalb man es in Frankreich als orgue-expressif – „expressive Orgel“! – bezeichnete. Energisches Treten in die Pedale erhöhte den Winddruck und damit die Lautstärke.

Die Halleluja-Pumpe

Besonders beliebt war das Instrument in religiösen Kreisen. Im Hausbibelkreis pietistischer „Stundenleute“, in kleinen Kirchen, Friedhofskapellen oder Gemeindehäusern – überall war die „Halleluja-Pumpe“ oder „Psalmenquetsche“ präsent. Das hatte finanzielle Gründe. Ein Harmonium war sehr viel billiger als eine Orgel, und es verstimmte praktisch nie. Man konnte Woche für Woche zum Gottesdienst kommen und sicher sein: Es würde funktionieren.

Diese Robustheit machte das Harmonium zum idealen Instrument der Straßenmission. Für die mobilen Einsatzkommandos der Heilsarmee wurden kleine Spezialmodelle gebaut, die – zusammengefaltet in einem Koffer – problemlos herumgetragen werden konnten. In keinem Land der Welt erfreute sich das Harmonium solcher Popularität wie in den USA. Schon die Siedler hatten auf ihrem Weg nach Westen so genannte Prärieorgeln im Gepäck. 1866 gab es in Amerika insgesamt 15.000 Instrumente, in den 1880er-Jahren wurden jährlich schon annähernd 100.000 produziert. Die größten Hersteller, wie die Firma Estey, bauten um die Jahrhundertwende jährlich um die 20.000 Stück. Insgesamt gab es vor dem Ersten Weltkrieg in den USA ungefähr 5 Millionen Harmonien.

Skandinavien war eine andere Hochburg. In abgelegenen Weilern und Gehöften bot das Instrument an einsamen Winterabenden vielfach die einzige Unterhaltung. Und wenn man sich am Wochenende zum Haustanz traf, wurde bei Walzern, Polkas und Märschen ebenfalls kräftig in die Pedale getreten.

In den Achtzigerjahren begannen junge Musiker im Norden, nach solchen Traditionen zu graben, und förderten neben Hardangerfiedel und Kantele-Zither auch das Harmonium zutage. Triakel heißt eines der profiliertesten Folkensembles Schwedens, dessen Klang vom Harmonium geprägt wird. Die „Tramporgel“, gespielt von Janne Strömstedt, liefert nicht nur das Fundament für die Singstimme von Emma Härdelin, sondern gibt auch dem Geigenspiel von Kjell-Erik Eriksson mehr Fülle, ohne die Transparenz des Zusammenspiels zu gefährden.

„Das Harmonium verfügt über den perfekte Sound, um Gesang und Geigen zu begleiten“, bestätigt Klara Rosen von der Folk-Girly-Band Plommon, ebenfalls aus Schweden. Ursprünglich Pianistin, verliebte sie sich vor Jahren Hals über Kopf in das Instrument, als sie es in einem traditionellen Volksmusikensemble aus Nordschweden hörte. „Der Ton des Harmoniums besitzt eine ganz eigene Qualität, weil es schnauft und atmet“, beschreibt sie fasziniert. „In dieser menschlichen Dimension liegt der Hauptunterschied zum Klavier, das ja eigentlich ein Perkussionsinstrument ist und angeschlagen wird.“

Christliche Missionare brachten das Instrument in die entlegensten Ecken der Welt. Für die Tropen baute man besonders robuste Instrumente, die den extremen klimatischen Bedingungen gewachsen waren. Im Innern waren sie mit Arsen imprägniert, um sie vor Insekten zu schützen. Mit englischen Missionaren gelangte das Instrument nach Indien, wo es auf großes Interesse stieß. Schon bald begannen indische Importhäuser, Harmonien aus Europa einzuführen, und es dauerte nicht lange, bis einheimische Firmen ihre eigenen Instrumente bauten. Diese Modelle waren nicht größer als eine Schachtel, noch leichter zu transportieren als die europäischen und wurden mit nur einer Hand gespielt; mit der anderen pumpte man Luft in den Blasebalg, der auf der Rückseite des Instruments angebracht war.

Blasebalg in Pakistan

Gegen den Siegeszug des Harmoniums in der klassischen indischen Musik erhob sich Widerstand. Einwände wurden gegen die fixierten Noten erhoben, die keine Tonverschleifungen zuließen und deshalb dem vokalen Charakter der indischen Musik entgegenstanden. Mehr als drei Jahrzehnte war deshalb das Harmonium aus dem staatlichen Rundfunk in Indien verbannt, was allerdings seiner Popularität nicht schadete. Im Gegenteil: Es fand nicht nur in lokalen Volksmusikstilen und der klassischen Tradition breiten Zuspruch, sondern auch in der Qawwali-Musik der Sufi-Ensembles aus Pakistan, aus der es heute nicht mehr wegzudenken ist. Üblicherweise setzen solche Ensembles zwei oder drei Harmonien ein, die für die melodische Untermalung der ekstatischen religiösen Gesänge sorgen und außerdem Gesangspausen mit Tongirlanden ausschmücken.

Bis zu seinem Tod 1997 war Nusrat Fateh Ali Khan der führende Vertreter dieser Richtung. Mittlerweile knüpfen Nusrats Neffen im Rizwan-Muazzam Qawwali an dessen Musik an – sie sind, wie schon ihr Onkel, offen für Ethno-Pop-Fusionen.

Um das Spiel auf dem indischen Harmonium richtig zu beherrschen, muss man es vor Ort studieren. Aus diesem Grund besuchte die amerikanische Jazzpianistin Myra Melford letztes Jahr für neun Monate Indien. Im Harmoniumvirtuosen Pandit Sahon Lal Sharma aus Kalkutta fand sie einen außergewöhnlichen Lehrmeister. „Ich studiere klassische indische Musik nach der traditionellen mündlichen Methode“, beschreibt die renommierte Jazzmusikerin ihren Lernprozess. „Ich habe ihn zum Lehrer gewählt, weil er eine Ausnahmeerscheinung ist, der das Harmonium zu einem Soloinstrument gemacht hat, auf dem man genauso virtuos musizieren kann wie auf einer Sitar oder einem Sarod.“

Heute erlebt das Harmonium ein unerwartetes Comeback quer durch alle Sparten der Musik. Komponisten wie John Adams, Jazzmusiker wie Henry Threadgill und Myra Melford und Popstars wie Tom Waits, Beck und Radiohead zerren das antiquierte Instrument aus der Rumpelkammer der Geschichte und erfinden es als modernes Instrument neu. Schon früher hatte die Faszination, die von fernöstlicher Philosophie, Religion und Musik ausging, dem Harmonium Eingang in die Popmusik verschafft. Bereits John Lennon besaß eine beachtliche Sammlung außergewöhnlicher Instrumente, darunter auch ein indisches Harmonium, das auf etlichen Aufnahmen der Beatles zu hören ist. Und Nico, die deutsche Sängerin aus dem Umkreis von Velvet Underground, spielte ein europäisches Modell, um ihren statisch-reduzierten Gesang zu begleiten.

Zwischen Rock und Folk bewegt sich die Sängerin Charlotte Greig. Sie zählt zu einer neuen Generation englischer Folkmusikerinnen, die sich auf Sandy Denny und Shirley Collins berufen und in einer minimalistisch-kargen Ästhetik ihre eigene Ausdrucksweise suchen. Die dumpf-nasalen Harmoniumklänge, unterlegt mit dem monotonen Klopfen elektronischer Schlagzeugbeats, verleihen Greigs Liedern eine düstere Atmosphäre, in der man die ganze religiös-puritanische Tradition des Instruments zu erkennen meint.

Harmonium-Sound auf neuen CDs:Riswan-Muazzam Qawwali: „A Better Destiny“ (Real World). Temple of Sound & Riswan-Muazzam Qawwali: „People’s Colony No 1“ (Real World). Diverse: „Flight of the Soul. Qawwali from Pakistan“ (Wergo SM). Triakel: „Vintervisor“ (Westpark Music 87079). Plommon: „Sah!“ (Akku Disk/Fenn Music). Charlotte Greig: „Down in the Valley“ (Harmonium Music HM 719)