„Da ist nur dein Körper und der Fels“

Klettern, der Sport für Blinde: Keine unvorhergesehenen Bälle, kein Gegner, der wegläuft. Ein Gespräch mit Erik Weihenmayer, dem Blinden, der den Mount Everest bestieg: „Jeden Tag zweifle ich an mir, und jeden Tag schaffe ich es trotzdem“

„Wenn du ein erfolg-reicher Blinder sein willst, musst du besser organisiert sein“

Interview MARTIN HAGER

taz: Ein Blinder auf dem Mount Everest, das klingt erst einmal absurd. Wie stehen Sie dazu?

Erik Weihenmayer: Viele Leute, die von der Expedition gehört haben, dachten wahrscheinlich: Dieser blinde Typ mit der Idee, auf den Mount Everest zu steigen hatte Glück. So ist es aber nicht. Ich klettere seit 20 Jahren, war überall auf der Welt auf den verschiedensten Bergen, war also wirklich vorbereitet auf den Aufstieg. Wenn du qualifiziert bist, ist es kein wahnsinniges Risiko, den Mount Everest zu besteigen. Ich will nicht abschätzig reden von den Leuten, die am Mount Everest gestorben sind, aber in fast allen Fällen lässt sich herausfinden, was sie falsch gemacht haben.

Wie sind Sie zum Klettern gekommen?

Bevor ich mit 13 endgültig erblindete, habe ich Basketball gespielt wie meine Brüder. Aufs Klettern wäre ich wahrscheinlich nie gekommen. Es wurde mir bei einem Seminar für Blinde angeboten. Tatsächlich ist es der ideale Sport. Kein Ball fliegt durch die Luft, es gibt nur deinen Körper und den Fels. Er verändert sich, und du kannst herausfinden, was du mit deinem Körper tun musst, um hochzuklettern. Ich kann einen Halt finden, indem ich mit den Händen über den Fels streiche. Dazu habe ich zwar nicht viel Zeit, aber es ist eine stabile Umgebung, mit der ich arbeiten kann.

Ihre Autobiografie erinnert an einen klassischen Entwicklungsroman, hin zu einem gereifteren Menschen . . .

Ein hartes Leben macht einen Menschen reifer, zwingt einen, etwas mehr nachzudenken. Ich habe mit Sicherheit dazugelernt, vielleicht auch nur, hartnäckig zu sein. Ich stellte fest, dass ich vieles machen kann, wenn ich es etwas anders machte als Sehende. Außerdem kann ich eine Menge aushalten, das macht mich zum guten Kletterer. Wenn du kletterst, musst du viel Warterei, Zweifel, Angst überstehen. Das habe ich alles schon erlebt, bin also psychologische gut auf den Berg vorbereitet. Man muss auch nicht immer die Erwartungen der sehenden Welt akzeptieren.

Wie meinen Sie das?

Als ich lernen wollte, gefrorene Wasserfälle hinaufzuklettern, sagten mir die Leute: Dazu muss man sehen können, wohin man den Eispickel schwingt, weil man sonst aus Versehen ein riesiges Stück Eis losbricht, unter Umständen die gesamte Eiswand. Ich habe es trotzdem versucht und herausgefunden, dass ich erstens meinen Pickel als Verlängerung meiner Arme gebrauchen kann, dass ich mit der Metallspitze des Werkzeugs fühlen kann und dass ich die kleinen Schwachstellen und Wölbungen spüren kann. Und wenn ich sie gefunden hatte, konnte ich mit dem Pickel sacht dagegen klopfen. Ich habe festgestellt, dass das Eis immer anders klingt. Wenn es wie eine Glocke klingt, ist es schlecht, wenn es blechern klingt, wie eine Gabel, die gegen einen Teller schlägt, bedeutet das viele kleine, scharfe Eissplitter, die ich zerschmettern würde, wenn ich darauf schlüge. Aber wenn es klingt, als ob man auf Butter trifft, ist es ideal, dann kann ich meinen Pickel ins Eis einschlagen, und es wird halten. Wenn ich mich an die Ratschläge anderer Leute gehalten hätte, würde ich nie wunderschöne Wasserfälle hinaufklettern.

Vermittelt Ihnen denn die Blindheit mehr Sensibilität anderer Sinne?

Blindheit macht dich nicht zu einem besseren Menschen. Wenn du ein mieser Typ bist, wirst du ein mieser blinder Typ sein. Wenn du aber eine erfolgreicher blinder Mensch sein willst, musst du besser organisiert sein und ein bisschen mehr Durchhaltevermögen haben. Die Sinne werden nicht besser, aber du benutzt sie viel öfter. Ich kann tatsächlich durch meine Handschuhe hindurch den Fels spüren. Und die Qualität eines Knotens fühle ich an meinem Gesicht, das ja auch bei Kälte unbedeckt bleibt. Als Blinder kann ich die Schönheit der Welt nicht mit den Augen entdecken, aber ich spüre viel Schönheit in dem, was ich unter meinen Händen fühle, unter meinen Füßen, was ich höre, was ich rieche. Ich erhalte unglaublich viel Information, erkenne aufregende Dinge.

Unsere Gegenwart gilt andererseits als Zeitalter des Visuellen. Gerade der Angriff auf das World Trade Center hat das deutlich gemacht. Dieses immer wiederkehrende Bild von dem Flugzeug, das in den Turm hineinfliegt.

Das stimmt. Ich kann mir das Flugzeug vorstellen, aber es ist nicht real, eher wie ein Cartoon. Ein von Geburt an Blinder kann sich auch von einem Elefanten nur ein ganz ungenaues Bild machen. Was man nicht berühren, hören oder fühlen kann, davon hat man keine Vorstellung. Was die Berge anbelangt, die ich besteige, so brauche ich Nachbildungen davon, um sie begreifen zu können. In meiner Heimatstadt gibt es in einem Laden eine dreidimensionale Nachbildung vom Mount Everest. Also bin ich hingegangen und habe all die verschiedenen Wege den Berg hinauf erfühlt.

Dennoch scheinen Sie der Welt der Sehenden verhaftet. In Ihrem Buch schreiben Sie von der Zeit, als Sie anfingen, sich mit Mädchen zu verabreden. Es war für Sie enorm wichtig, zu wissen, wie sie aussahen. Ist das immer noch so?

Meine Frau muss nicht unbedingt eine Schönheitskönigin sein, aber ich will schon wissen, wie sie aussieht. Wenn ein Mensch fit und gesund ist, sieht man ihm das auch an. Außerdem geht körperliche Schönheit über das, was man sehen kann, hinaus: Wie sich jemand anfühlt, die Haut, die Größe. Wenn du verheiratet bist, wirst du ohnehin mehr tun als deine Frau nur anschauen

„Wenn der Pickel auf Eis trifft und es klingt, als ob man auf Butter schlägt, ist es ideal“

Das heißt, es ist nur noch wichtig, was Sie tatsächlich selbst wahrnehmen können?

Ja. Ich muss die Dinge so weit verstehen, dass ich klarkomme. Es ist wie mit Farben. Ein Mensch, der von Geburt an blind ist, muss nicht wirklich wissen, wie eine Farbe aussieht, solange er weiß, dass blaue Hosen zu einem weißen Hemd passen. Ich möchte mich nicht vollständig auf Leute verlassen müssen, die mir sagen: Okay, wir sind jetzt hier.

In bestimmten Bereichen werden Sie sich aber immer auf andere verlassen müssen. Sie schreiben, dass Sie selbst gar nicht merken würden, wenn Sie auf der Spitze des Berges wären.

An der Spitze ist es meist ein wenig flacher, und man hört den freien Raum um sich herum, wie ich ja auch einen steilen Felsabsturz am Echo erkennen kann. Aber es stimmt schon, ich weiß es nicht genau. Die Sehenden tun es manchmal allerdings auch nicht. Oft gibt es eine Menge kleiner Erhebungen entlang einem Höhenzug, einer vielleicht 5 Meter höher als der andere und gerade 200 Meter voneinander entfernt. Sie schauen sich um und fragen sich: Welcher ist der richtige Gipfel? Beim Betreten des Gipfels geht es ohnehin nicht um den Blick, sondern darum, etwas wahr zu machen, wovon du immer geträumt hast, zu realisieren, dass es keine unüberwindbaren Hindernisse gibt, dass du in der Welt existieren kannst. Es geht um das Gefühl.

Es gibt aber auch Situationen, die Sie nicht im Griff haben, zum Beispiel als Sie am Berg aufs Klo mussten und versehentlich vor dem Zelt einer anderen Klettertruppe landeten.

Solche Sachen passieren einem als Blindem häufiger. Mein Motto ist: „Was ich nicht seh, tut ihnen nicht weh.“