Traumziel: Ruhestand

Seine Musik ist so sublim, so elegisch, wie wir uns den Süden immer erträumten. Im wirklichen Leben strebte der kühl kalkulierende Karrierist nach frühem Rum und hohen Gagen. Heute vor zweihundert Jahren wurde der Komponist Vincenzo Bellini geboren

von RALPH BOLLMANN

Glutrot wie das frische Magma des Vulkans leuchtet der Sugo aus reifen Tomaten; schwarzviolett wie erstarrte Lava schimmern die Auberginen; glänzend weiß wie der Schnee auf dem Gipfel blendet der frisch geriebene Schafskäse obenauf: Das Denkmal, das die Einwohner Catanias ihrem erfolgreichsten Mitbürger gesetzt haben, sieht aus wie der Ätna oberhalb der Stadt – und, vor allem: Man kann es essen.

„Alla Norma“ kommen die Nudeln in der Stadt an der sizilianischen Ostküste auf den Tisch, als Hommage an Bellinis populärste Oper. Und bei keiner anderen Berühmtheit ist die kulinarische Ehrung so berechtigt wie bei dem Komponisten, der heute vor zweihundert Jahren in Catania geboren wurde. Gilt doch Bellinis Musik als Inbegriff des reinen Wohlklangs, als Höhepunkt der italienischen Gesangsoper – schaurig und schön zugleich wie der Anblick des Ätna, so sublim und elegisch, wie sich die Reisenden aus dem Norden den Süden stets erträumten.

„Die Gefühle, die einen bei einer so einzigartigen Partie wie Norma überkommen, lassen sich nicht beschreiben“, schwärmt die katalanische Sängerin Montserrat Caballé. Bellini selbst hatte zu seiner Arbeit ein weniger romantisches Verhältnis: Kaum ein anderer Komponist richtete seine Karriere mit einer solchen Ausschließlichkeit am Geld aus wie Bellini. Als der 27-Jährige mit seiner vierten Oper „La Straniera“ endgültig in die Spitzengruppe der italienischen Komponisten aufgestiegen war, kannte er nur noch ein Ziel: Er wollte pro Uraufführung mindestens zehntausend Franken Honorar einstreichen – doppelt so viel wie die Rekordsumme, die der zehn Jahre ältere und ungleich berühmtere Rossini 1823 für seine „Semiramide“ erhalten hatte.

Das Ziel erreichte er schon zwei Jahre später. „La Sonnambula“ gilt nicht nur als die beste, sie war auch die bis dahin teuerste Oper Bellinis. Weil die Scala den Honorarforderungen des Komponisten nicht nachkam, brachte er das Werk am weniger angesehenen Teatro Carcano heraus. Ein Gruppe reicher Mailänder Bürger hatte ihm zwölftausend Lire angeboten – umgerechnet 10.440 Franken. Die Schallmauer war durchbrochen. Kurz darauf unterschrieb er den Vertrag für „Norma“. Nun war die Scala bereit, die geforderte Summe zu bezahlen.

„Geld ist der Maßstab“, sagte ein Impresario über den italienischen Opernbetrieb jener Zeit – über eine Unterhaltungsindustrie, deren Spielregeln so wenig mit Romantik zu tun hatten wie heute das Geschäftsgebaren der großen Studios in Hollywood. Bellini hatte das verstanden wie kaum ein anderer Komponist, und er versuchte das Mailänder Erfolgsrezept wenig später in Paris zu wiederholen. Auch dort brach er die Verhandlungen mit der renommierten Opéra ab, weil ihm das Honorar zu niedrig war. Handelseinig wurde er mit dem Théâtre Italien. Er hoffte, dass nun auch das führende Pariser Haus seine Forderungen nicht mehr ignorieren konnte. Dazu kam es nicht mehr: Im Spätsommer 1835 starb Bellini überraschend an der Amöbenruhr.

Die Frage, was der Nachwelt durch den frühen Tod des genialen Musikers entgangen ist, lässt sich in Bellinis Fall leicht beantworten: nicht viel! Einiges spricht dafür, dass die erhoffte Arbeit für die Opéra auch die letzte gewesen wäre. Denn das Genie der Melodie kannte kein anders Ziel, als keine Melodien mehr erfinden zu müssen. Er trieb die Preise für seine Opern auch deshalb in die Höhe, weil er sich möglichst schnell zur Ruhe setzen wollte.

Bereits vor seinem dreißigsten Geburtstag beschäftigte sich Bellini mit diesem Gedanken, wie sein Biograf John Rosselli schreibt. Nach dem lukrativen Vertrag für „La Sonnambula“ habe der Komponist geglaubt, er könne binnen vier Jahren genug Geld verdienen und sich von der Bühne zurückziehen. Das war damals kein ungewöhnlicher Wunsch. Auch Rossini hatte sich bereits mit 37 Jahren zur Ruhe gesetzt und in den restlichen 35 Jahren seines Lebens allenfalls noch aufwändige Menüs komponiert. Unter den Bedingungen des damaligen Opernbetriebs mit seinem ständigen Zeitdruck, seiner scharfen Konkurrenz und seinen ständig wechselnden Moden war es ohnehin kaum möglich, länger als ein oder zwei Jahrzehnte durchzuhalten.

Dabei schuf sich Bellini durch die hohen Honorare, die er sich erstritt, schon ungewöhnliche Freiräume. Lag der durchschnittliche Ausstoß italienischer Opernkomponisten damals bei drei bis vier abendfüllenden Werken pro Jahr, konnte sich der Sizilianer auf ein einziges konzentrieren. Durchgearbeitete Gesangslinien statt Koloraturen von der Stange – das wäre sonst ebenso unmöglich gewesen wie die ungewöhnlich enge Zusammenarbeit mit seinem Textdichter Felice Romani.

Mit Romani hielt es Bellini nur so lange aus, wie das Duo von Erfolg zu Erfolg eilte. Kaum war mit „Beatrice di Tenda“ 1833 in Venedig ein herber Rückschlag zu verzeichnen, da verkehrten die einstigen Partner nur noch über die Medien. Bellini lancierte einen Zeitungsartikel, der dem Librettisten die Schuld am Misserfolg zuschob. Es stimmte zwar, dass Romani stets zu viele Aufträge annahm und sich mit seinen Texten notorisch verspätete. Trotzdem war Bellinis öffentliche Schuldzuweisung ein Affront. Romani revanchierte sich, ebenfalls über die Presse – das Zerwürfnis war komplett.

Selbst private Beziehungen ordnete Bellini rigoros seiner Opernlaufbahn unter. „Wenn ich nicht meine Karriere verfolgen müsste, dann hätte ich unsere Beziehung erneut aufgenommen“, schrieb er im Sommer 1834 über den endgültigen Bruch mit der Mailänderin Giuditta Turina, die sechs Jahre lang ein außereheliches Verhältnis mit ihm hatte. „Aber mit so vielen Verpflichtungen in verschiedenen Ländern wäre eine solche Beziehung fatal für mich, weil sie mir meine Zeit ebenso wie meinen Frieden rauben würde.“

Wie stark Bellinis Interesse an Turina wirklich war, darüber streiten die Biografen bis heute. Fest steht: Der einzige Mensch, der dem Komponisten zeitlebens wirklich nahe stand, war der Studienfreund und spätere Nachlassverwalter Francesco Florimo. „Hunderte von feurigen Redewendungen in ihrer späteren Korrespondenz“, schreibt der Autor Herbert Weinstock, „lassen den heutigen Leser ohne jeden Zweifel eine homosexuelle Verbindung vermuten.“ Das Verhältnis zwischen Bellini und Florimo „homosexuell zu nennen“, glaubt hingegen der Biograf John Rosselli, „heißt eine Kategorie einzuführen, die Menschen des frühen 19. Jahrhunderts mit einer solchen Beziehung nicht in Verbindung brachten“.

Wie auch immer: Florimo reagierte mit rasender Eifersucht, als er von Bellinis Beziehung zu Giuditta Turina erfuhr. Und nach Bellinis Tod benahm er sich wie ein Witwer – mit fatalen Folgen wie stets, wenn Hinterbliebene das geistige Erbe eines großen Künstlers für sich reklamieren. In den fünfzig Jahren, um die Florimo den Freund überlebte, machte er Bellini zum Mythos. Er publizierte dessen Briefe in verfälschter Form und vernichtete die Originale, er schrieb eine Biografie, die vor Unwahrheiten strotzte. All das tat er im Dienste dessen, was er subjektiv als die Wahrheit empfand.

Bei der Mythenbildung war es höchst hilfreich, dass Bellini unverschämt gut aussah. „Bellissimo Bellini“ – das geflügelte Wort bezog sich nicht nur auf die Schönheit seiner Melodien. Schon zu Lebzeiten wurde der blonde und blauäugige Sizilianer, der auf einem der bekanntesten Gemälde die Augen kokett nach oben verdreht, in den Pariser Salons als Attraktion herumgereicht. Dass er kaum Französisch sprach und als geistreicher Konversationspartner daher ungeeignet war, geriet nach seinem Tod bald in Vergessenheit. „Es war eine hoch aufgeschossene, schlanke Gestalt, die sich zierlich, ich möchte sagen kokett, bewegte“, schrieb Heinrich Heine nicht ohne jene homophoben Untertöne, mit denen er auch den Dichter August von Platen attackierte. „Sein Gang war so jungfräulich, so elegisch, so ätherisch. Der ganze Mensch sah aus wie ein Seufzer en escarpins (auf Pumps).

Doch die Umdeutung des geschäftstüchtigen Tonsetzers zum weltfremden Elegiker brachte die Mythenproduktion erst recht auf Trab. Seinen Höhepunkt erreicht der Bellini-Kult im Jahr 1876, als sich der junge italienische Nationalstaat der Gebeine seines berühmten Komponisten bemächtigte. In einem wahren Triumphzug wurde der Sarg vom Pariser Friedhof Père-Lachaise in die barocke Kathedrale von Catania überführt. Vierzehn Jahre später eröffnete die Stadt, in der es zu Bellinis Lebzeiten gar kein öffentliches Musiktheater gab, ein gewaltiges Opernhaus mit fünf Rängen und damals rund dreitausend Plätzen. Natürlich erhielt es den Namen „Teatro Bellini“. Und natürlich wird dort heute Abend eine Oper des Meisters gespielt. Anschließend werden die Catanesi in die Restaurants ausschwärmen – und den Jubiläumstag mit einem Teller „Pasta alla Norma“ beschließen.

RALPH BOLLMANN, 32, taz-Redakteur mit den Schwerpunkten Politik und Kultur, wurde während des Studiums in Italien zur Oper bekehrt