Die tödliche Gefahr auf Calis Straßen

Entgegen der landläufigen Meinung ist der Bürgerkrieg nicht das größte Problem in Kolumbien. Der Straßenverkehr fordert in Cali, einer der größten Städte das Landes, mehr Todesopfer. Ein Überlebender einer Busfahrt berichtet von seinen Erfahrungen

Drastische Strafen sollen Fußgänger davon abhalten, die Straße zu überqueren

von JENS HOLST

Der rechte Fuß des dynamischen Chauffeurs kennt nur eine Position: der Schwerkraft folgend immer fest auf den Boden durchgedrückt. Nur das Pedal wechselt im Rhythmus der Salsa- und Cumbiamusik, die in ohrenbetäubender Lautstärke aus krächzenden und quietschenden Boxen auf die Fahrgäste niederprasselt. Das ständige abrupte Wiegen der Oberkörper in horizontaler Richtung beim ruckartigen Anfahren und der unmittelbar danach einsetzenden Vollbremsung wird ergänzt durch weniger regelmäßiges Auf-und-Ab-Hüpfen im Rhythmus der Bodenwellen und Schlaglöcher. Die Stoßdämpfer haben lange aufgehört, auch nur irgendetwas zu dämpfen und geben jeden Schlag ungefedert in die Wirbelsäulen der sitzenden Fahrgäste weiter.

Wer nur noch einen Stehplatz errungen hat, kann die abgehackten Schläge zwar mit Sprung-, Knie- und Hüftgelenken auffangen und somit die Wirbelsäule schonen, dafür besteht schon bei Mittelwüchsigen die große Gefahr einer Hirnerschütterung durch heftigen Kontakt des Schädels mit dem niedrigen Dach des uralten Gefährts.

Busfahren ist in Cali zuallererst ein Abenteuer. Wer es sich leisten kann, weicht in der südkolumbianischen Millionenstadt auf das eigene Gefährt oder eine der allgegenwärtigen gelben Taxen aus. Wem derartiger Luxus unbezahlbar ist, kann dafür gratis etwas anderes leisten, nämlich Abbitte für all seine Sünden bei der Heiligen Maria oder ihrem gekreuzigten Sohn, deren Konterfeis jedes Cockpit zieren. Anlässe dazu gibt es in beängstigender Abfolge, bei jedem riskanten Überholmanöver, in jeder auf zwei Rädern gerutschten Kurve oder dem Überspringen größerer Bodenwellen. In solchen Situationen bekommen die ebenfalls in keinem Führerstand fehlenden Aufkleber mit Texten wie „Jesus liebt mich“ oder „Gott schützt mich“ eine reale, existenzielle Bedeutung. Etwas weniger Fatalismus, schießt es einem nach jedem überstandenen Beinaheunfall durch das adrenalinüberschwemmte Hirn, wäre angebracht. Zu sehr sollte sich der „Pilot“ bitteschön nicht auf außerirdische Mächte verlassen.

Dabei ist man als Buspassagier in Kolumbien eigentlich auf der sichereren Seite. Theoretisch und statistisch zumindest. Denn der Verkehr in diesem südamerikanischen Land, getreues Bild einer jeden Gesellschaft, richtet sich nach den Gesetzen des Dschungels: Der Stärkere setzt sich durch. Und stärker als ein Bus ist innerhalb der Städte kaum jemand. Schwächere dagegen gibt es viele – und entsprechend zahlreich sind die Opfer des Verkehrs. Fast die Hälfte der 4.500 Verunglückten, die im Universitätskrankenhaus von Cali Jahr für Jahr aufgenommen werden, sind Motorrad- oder Fahrradfahrer. Ein Drittel gehören der lästigen Gruppe der Fußgänger an, auf die ein kolumbianischer Autofahrer nicht einmal herabschaut, nein, er sieht sie nicht. Und wer das nicht begreift und rechtzeitig zur Seite springt, ist eben selber Schuld und landet umgehend in der Unfallchirurgie. Die Statistik der Uniklinik in Cali spricht eine klare Sprache: Selbst in einem Land wie Kolumbien, das seit mehr als vierzig Jahren einen blutigen Bürgerkrieg erlebt und die höchste Rate an Gewaltverbrechen in ganz Lateinamerika aufweist, verschlingt der Straßenverkehr weitaus mehr Opfer als politische oder wirtschaftlich motivierte Gewalt und tägliche Kriminalität zusammen. Das Universitätshospital in Cali zieht viele Traumatologen aus den USA und Kanada an, die hier an den jährlich 2.000 schuss- und 1.500 messerstichverletzten Patienten ihre unfallchirurgischen Fähigkeiten trainieren wollen. Trotz dieser weltweit rekordverdächtigen Zahlen liegen Verkehrsunfallopfer mit deutlichem Vorsprung auf Platz eins der Patientenskala.

Auf sehr kolumbianische Weise versucht Cali immer wieder, die Zahl der Unfallopfer einzudämmen. So soll eine drastische Erhöhung der Strafen Fußgänger davon abhalten, einfach über die Straße zu rennen, anstatt eine der wenigen Überführungen zu benutzen. Recht so, wer sich keine Blechkarosse leisten kann, ist eben selber schuld. Wenn sich Fußgänger auch noch ungeschützt in die Blechlawine stürzen, sollen sie ob derartiger Torheit auch kräftig bestraft werden. Sie stören ohnehin nur den reibungslosen Ablauf des Lebens und gehören sowieso in ihrer Mehrheit zu den Armen und nicht zur meinungsbildenden Minderheit des südamerikanischen Landes. Und die geht bekanntlich sehr interessenskonform mit Informationen und Nachrichten um. Denn obwohl jedes Jahr allein in Cali rund eintausend Patienten mehr in Folge eines Unfalls im Straßenverkehr eingeliefert werden als mit Gewehr-, Revolver-, Macheten- oder Messerstichverletzungen zusammen, blenden Medien und Öffentlichkeit dieses Problem weitgehend aus.

Jedermann fühlt sich bedroht durch die Guerilla, manch einer durch Armee oder Paramilitärs, alle durch Raubüberfälle auf offener Straße oder Einbrüche. Den Straßenverkehr empfindet niemand als annähernd so gefährlich. Doch wer die Zahlen aus der Unfallchirurgie in seinem Kopf bewegt, wer die eine oder andere Stakkato-Salsa-Bustour unversehrt überlebt hat, der lernt eine andere Ausprägung der Busfahrerkultur in Cali schätzen und lieben. Jenen mittelalterlichen Chauffeur, der in aller Regel ein Gefährt ähnlichen Jahrgangs mit einer Durchschnittgeschwindigkeit von etwa 10 km/h durch die Straßen steuert, an jeder Laterne anhält, um zahlenden Passagieren auch ohne akrobatische Aufspringübungen die Mitfahrt zu ermöglichen, und derweil angeregtest mit einer meistens unwesentlich jüngeren Dame parliert, die sich über dem in der Front eingebauten Motorblock räkelt. Wenn sich bei derartiger Antigeschwindigkeit und Ruhe angesichts drängender Termine eine gewisse Ungeduld ankündigt, gibt es nur eine Chance: Sich konzentriert die Schreckminuten der anderen Art des Busreisens und den Besuch in der unfallchirurgischen Aufnahmestation in Erinnerung zu rufen.