das große und das kleine gruseln

last night „captain unamerica“ saved my life, werde ich morgen sagen können. heute treffe ich ihn noch in der thompson street in greenwich village, ein supermann von vorne bis hinten. d. h. von vorne mehr auf die „freedom of flags“-art und von hinten mehr in einem „no more logos“-sinn. mitten drin jedenfalls der „captain unamerica“, der mich jetzt rettet. denn es ist klar, mit mir muss etwas geschehen. und geschieht es auch. denn „captain unamerica“ ist ausgerüstet, und so verwandle ich mich innerhalb von fünf minuten mit hilfe einer alten zeitung, zweier spraydosen und einer glittertube in „miss redgold“ oder „ratgold“ – ganz wie man’s nimmt – und kann losziehen zur alljährlichen halloween-parade in der 6th avenue, die dieses jahr unter dem motto „phoenix“ steht.

tatsächlich: allerhand vögel ziehen vorbei, nicht nur schneekugeln, ameisen, quadrate, fortune cookies oder gottesanbeterinnen, nein, jede menge fluggespenster: monstervögel, groteske flugdrachen, flattermänner, zwischendurchvögel, glamourgefiedertes. doch selbst dies wird noch getoppt an unheimlichkeit vom militärhubschrauber am himmel, der mit suchscheinwerfer die stadt absucht. auch hier unten erhöhte polizeipräsenz und absperrungen. vom village nach harlem brauche man heute über zwei stunden, heißt es, die u-bahnen verkehren nur zum teil, sagt man. und dass der luftraum über new york gesperrt sei, habe ich zwar gelesen, sehe aber jetzt im minutentakt die flugzeuge den luftraum über manhattan durchkreuzen.

wir leben im zeitalter der zweiten offiziellen warnung, die so unsinnig daherkommt wie die erste am 11. oktober. denn was soll man mit der information anfangen, eine weitere terrorattacke stehe unmittelbar bevor, aber genaueres wisse man nicht. wahrscheinlich geht es ohnehin um etwas anderes. oder hat justizminister ashcroft etwa nicht in einer pressekonferenz gesagt, diese warnung gebe den leuten „a basis for continuing to live their lives they would otherwise live them, with this elevated sense of alertness or vigilance“?

also ein erhöhter sinn der wachsamkeit wird der bevölkerung abverlangt. nur wie viel die davon noch auftreiben kann, ist eine andere frage. nicht mehr viel, so scheint es, denn was macht sie gerade? sie kreischt. sie quietscht. sie lacht, sie ruft und scheint überhaupt auf jede zivile kriegstugend zu pfeifen.

noch ist nichts geschehen, was der warnung entsprechen könnte, doch auch das sei gefährlich, ist einer weiteren mahnung von herrn ashcroft zu entnehmen. die absenz einer attacke solle die leute nicht „into a false sense of indifference“ einlullen. so steht es jedenfalls am 30. 10. in der new york times, auch, dass 10.000 amerikaner nun antibiotics gegen milzbrand nähmen.

im großen und ganzen scheint das diesjährige halloween ein kampf zu sein zwischen den vielen kleinen unheimlichkeiten, die man noch selbst erzeugen kann, mit den großen, denen man unterworfen ist. denn die bevölkerung will sich des rechts nicht entledigen, sich selber noch zu erschrecken, dies also noch nicht vollständig als staatsmonopol betrachten.

ansonsten „traces of anthrax“ überall: in post offices, im landwirtschaftsministerium, im „eye, ear and throat hospital“ in der upper eastside. in einem gerichtsgebäude. in einer buchhaltungsfirma, im büro des senators tom daschle. überall taucht es auf. jeder eigentlich harmlose brief könnte kontaminiert worden sein auf dem plötzlich so plastisch vor unsere augen tretenden postweg. und dann sei da auch noch der fall der krankenhausangestellten, „someone who fails to fit the pattern“, heißt es in den fbi-aussagen, denn man rätselt, was ihre ansteckung bewirkt haben könnte, und muss jetzt ihr ganzes leben erforschen, ob sich nicht doch eine verbindung zur richtigen poststelle finden lässt. ja, im moment sieht es so aus, als hielte sich das ganze fbi im leben dieser einen frau auf bei seiner suche nach einem neuen „muster der ansteckung.“

– und mich schickst du jetzt ins anthrax post office? – aber ja! – und mich schickst du jetzt wirklich ins main office in der 34. straße, nur weil ich von dort aus billig buchpakete nach europa schicken kann? – ja!, lacht adrian, die mich zur parade begleitet hat. es bleibe nur die frage, ob europa billige buchpakete aus amerika im moment haben wolle. aber vielleicht wollen sie es ohnehin schließen, seufzt sie. dabei hat sie mir eben noch in ihrer wohnung ihre anti-anthrax-ausrüstung gezeigt: mehrere atemschutzmasken mit dem zeichen n95 drauf, und antibiotics aus griechenland – sie scheint sich mehr auf eine konkurrenz der sicherheitsgefühle einzuschießen – pretending the normal vs. hysterische überreaktion – ach, alles surrogat! –, während die konkurrenz der unheimlichkeiten hier um uns weitertobt. die kinder auf den schultern der eltern filmen jedenfalls eifrig weiter pinguine, spinnen, dinosaurierskelette, etwas alberne „pray for world peas“ – peas und alpenländisch anmutende perchtenmasken, dahinter könnte das bread and puppet-theater stecken! –, doch schon ziehen die scooter-pirates und samba-schulen vorbei, auch um die „towlaband“ kommt man nicht rum. und die beiden kinder neben mir auf den schultern ihrer väter filmen. stolz auf ihre verantwortliche aufgabe, in der konkurrenz der unheimlichkeiten die schöne, die richtige zu dokumentieren.

dieser konkurrenz habe ich allerdings schon am vortag im café „legamin“ beiwohnen dürfen. „do you really want to get paranoid?“, fragte mich dort der essayist und übersetzer eliot weinberger, nachdem ich wieder einmal beweisen konnte, dass ich absolut kein talent für filmschauspieler habe. zumindest habe ich das „most glamorous couple in town“, das direkt neben mir saß, nicht erkennen können. eingezwängt, eher nervös in ihrem ruhm herumkramend als souverän über ihn verfügend die frau neben mir. sie hatte die kappe tief ins gesicht gezogen, die beine umeinander gewickelt. der mann, ängstlich in die zeitung gestürzt, die wahrscheinlich auch nur anthraxgeschichten enthielt, sei hauptdarsteller der broadway-show „the producers“ gewesen. sie der „main character“ der hier überaus beliebten serie „sex in the city“, verheiratet seit jahren. freundlich. zurückhaltend.

„everyone loves them!“ und jetzt wollten sie auch nur ihren kaffee trinken. nun, während sie das in ruhe taten, konnte ich zumindest eliot erleben, wie er seine theorien geschickt ein- und ausfädelte. zum Beispiel dass die stärke der sicherheitsvorkehrungen an einem ort umgekehrt proportional zu der wahrscheinlichkeit eines terrorakts an ihm stünde. zum Beispiel dieser ort cedar rapids in iowa. das ist ein flugplatz inmitten von kornfeldern, „in the middle of nowhere“, also der typische ort, wo man übersetzerkonferenzen stattfinden lässt oder wohin man asiatische oder osteuropäische schriftsteller einlädt – stundenlang würde man dort durchsucht! und am flughafen in new york, in new jersey? „one minute!“, sagt er, „but – do you really want to get paranoid?“ – aber ja, natürlich! – gut – jeden tag erzählten sie einem andere geschichten über anthrax, so eliot – ja, und im grunde wisse man nichts – „of course you know!“, ruft eliot, und dann folgt auch schon seine theorie über die aryan nation people, die er für die absender jener anthraxbriefe hält. „you know, they are totally obsessed with anthrax. during the last years they have sent hundreds of letters with anthrax-threats to the government. they were all hoax-letters, of course.“ und warum? weil sie alle vom land kommen, weil sie alle mit den rindviechern arbeiten, lacht eliot. ich solle mal auf die websites von diesen gruppierungen sehen, die würden darauf bin laden feiern – „because they both hate the jews“. überhaupt sei der charakter dieser anthraxattacken „christian-fundamentalistic“. ich solle nur an diese florida-geschichte denken, ja, „just think of the tabloids. it’s very christian-fundamentalistic to send this letter to the media industry.“ und dann soll ich ihm mal verraten, wer im mittleren osten tom daschle kennt. „but – do you really want to get paranoid?“ aber ja, natürlich. die frau dieses senators sei eine wichtige figur in der airline industry. und zwar von jener company, die sehr viel geld bekommen habe von der regierungssoforthilfe. – und schon hatte eliot ein „it s all about money!“-gesicht gezogen, in dem auch eine bin-laden- und eine bush-familie platz hat und wie die sich in vorständen von firmen treffen. „it seems that bush and bin laden are the bad kids of these families“, schloss er sein „it s all about money!“-gesicht für eine weile lachend ab. „but do you really want to get paranoid?“

die anti-paranoia-geschichte liefert er mir natürlich auch: dass sie nach washington drehbuchautoren aus hollywood eingeladen hätten, damit diese den politikern erzählen, wie das jetzt so weitergehe. den plot wollten die politiker wissen, den handlungsfaden. doch eliot erzählte nicht, was die drehbuchautoren geantwortet haben. er weiß genau, dass er seine erzählungen nach dem muster amerikanischer mythen spinnt, er neckt mich ein wenig damit und meint es doch ernst. denn es sind mythen, die des realitätscharakters im augenblick nicht entbehren, sicher, die korrespondenzen sind da wie immer sehr ungewiss, aber jetzt betreffen sie einen doch mehr, treten näher.

„we want our children to get their sweets they deserve“, lautet dagegen eine der offiziellen tv-forderungen an jenem 31. 10., an dem man sich auch in meinem silver tower ein „safe halloween“ wünscht. eben dass die kinder einen „safe and fun holiday“ haben, wie das jetzt zusammengeht. ein zettel im lift informiert auch über die möglichkeit, sich in eine „trick or treat“-liste einzutragen, je nachdem ob man von kindern überfallen werden möchte oder eher nicht. ich möchte eher nicht, zumal ich ohnehin unterwegs bin auf der parade. vielleicht wäre aber „trick or treat“ eine gutes konzept, überhaupt mit der derzeitigen situation umzugehen, sozusagen ausbaufähig? doch zumindest die kinder scheinen sich mit so ein bisschen schokolade abspeisen zu lassen. oder sie sind eben, wie die kinder neben mir jetzt, derart beschäftigt, auf den schultern ihrer eltern die szene zu filmen, die sich ihnen bietet, dass sie gar nicht mehr mitkriegen, wie ihnen geschieht. und was filmen sie? chupachups-wagen mit chupachups-rufern zwischen schafsköpfen, kuhköpfen, die irgendwie löwen sein sollen, aber den weg dahin nicht ganz geschafft haben. dahinter eine „biotech-gruppe“, die sich mit transparenten gegen genetisch manipuliertes essen wendet: „biotec gives the pollution a life of ist own“ – diese puritaner! immer die sauberkeit im kopf, als ob ordnung die welt richtig machte. ja, auch interessengruppen aller art nutzen die parade. so auch die gruppe gegen das „caberet law“, ein gesetz, das seit der prohibitionszeit existiert. es verbietet lokalen, die keine lizenz dafür haben, die möglichkeit zur „tanzveranstaltung“. bisher hat man das gesetz nicht angewendet, aber jetzt hat giuliani es im rahmen seiner sicherheits- und sauberkeitspolitik reaktiviert. dass nur die kleinen clubs darunter leiden, die sich eine lizenz nicht leisten können, sollte man als absicht begreifen in einem land, in dem man schnell etwas für kriminell hält, was nicht gleich religiösen oder monitären zielen zuordenbar scheint. „save fun city!“, „dance is not a crime!“ und „dance the vote!“ ist auf den schildern zu lesen. „the funny thing is, that they are not dancing“, bemerkt adrian ganz richtig über die schildträger, „but they should dance!“ manche gruppen scheinen heute eher von einer art performativem widerspruch zu leben. doch langsam werden die großen gruppeninszenierungen ohnehin von einzelinszenierungen abgelöst, jetzt kommen die local people: darunter „herr bioterror“, das „mensch in der kapsel“, oder der „butcher-boy“, von anfang an mit blut überströmt und auf der suche nach bin laden. überhaupt sämtliche vorstellbare bush-&-bin-laden-kombinationen und jede menge fake politicians sind zu sehen – „the baloonhead is quite amazing, don’t you think?“ –, dann das „guardian sheep“ neben garbage-wesen aller art, dann flaggenmonster, flaggengespenster und natürlich das i-love-new-york-männchen! da ließe sich schon ein wenig bachtinsche karnevalstheorie anwenden, da denke ich doch an jene william-kentridge-paraden, die ich in der ausstellung des künstlers im new museum am broadway vor einem monat habe sehen können. die umkehrung der politischen semantik in der übertreibung ihrer formen. in der grotesken überziehung. ja, manchmal wirkt es doch sehr barock-zerlassen, dieses new york. und dem bleibt eigentlich nur hinzuzufügen, dass die katholische kirche, ein meister in jener unheimlichkeitskonkurrenz auf beiden seiten – nämlich der großen im singular und der kleinen im plural – dass diese katholische kirche einer der größten immobilienbesitzer der stadt ist.

ansonsten sind jetzt eine menge geräusche zu hören, amerikanische geräusche natürlich, aber heute doch auch halloween-geräusche. die können manchmal etwas von love parade haben, manchmal ein wenig ufa-fabrik beinhalten, meist erinnern sie einfach nur an geisterbahn. bis in den frühen morgen wird im village noch das gekreisch der feiernden zu hören sein, immer wieder das gespielte entsetzen und laute, die eine scheinbare überraschung ausdrücken sollen, während man die wirklichen überraschungen schon so ziemlich satt hat.

nicht mehr treffen werde ich „captain unamerica“ mit seiner vorderseite und rückseite. „i certainly will get beaten“, hat er vorhin sehr sachlich zu uns gesagt. „yeah, you will get beaten“, hat adrian ihm geantwortet. denn so viel ist klar. so eine akkumulation unamerikanischer aussagen, die schlägt man zu halloween hier, da führt kein weg daran vorbei. er aber nahm es als pflicht und wird es mit jenem resignativen stolz tragen, die den unamerikanern hier manchmal so zu eigen sein kann. das hat weniger mit unheimlichkeit zu tun als mit der handfesten produktion von wirklichkeit.