Die fortlaufende Produktion der Scham

Aufzeichnungen aus Pflegehäusern (3): Die Beobachtung, die der gealterte Körper erfährt, inflationiert. Es gibt keine Stufen der intimen Zugänglichkeit, die an bestimmte Personen gebunden wären, keinen Intimpass, mit dem sich regulieren ließe, vor wem man sich nun schämen müsste oder auch nicht

■ Alter bedeutet in unserer Gesellschaft nicht ein Jetzt-erst, das Fülle und Ertrag meint, sondern ein Nicht-mehr, ein Manko, ein Makel, ein Schicksal, eine Endstation. Unsere Serie beschäftigt sich damit, wie daraus die massenhafte Produktion von unnötigem Leiden wird

von PETER FUCHS
und JÖRG MUSSMANN

Scham ist die Bezeichnung für ein sehr starkes Gefühl. Es gibt Kulturen, in denen Scham ein zentrales Moment der Organisation des sozialen Zusammenhangs ist, andere Kulturen, in denen sie eher randständig anfällt und eigens hervorgehoben werden muss, etwa, wenn es um die öffentlich bekundete Scham über schreckliche Vergangenheiten geht. So gibt es bei uns nur noch wenig Formen, in denen Scham alltäglich kommuniziert und erlebt werden kann. In unserer pathosfreien Postmoderne wirkt sie eher peinlich. Weitgehend bewahrt blieb nämlich ein Gefühl für das Peinliche. Peinlich ist es, wenn einem im Restaurant die heiße Kartoffel aus dem Mund fällt, wenn Loriot’sche Nudeln im Gesicht herumwandern, wenn man dringliche Termine vergessen hat, und es gibt fast nichts, was Väter in der Nähe pubertierender Töchter tun könnten, was nicht als peinlich verbucht würde: „Ach Papa!“

Man muss nachgerade daran erinnern, dass Scham nicht ausgestorben ist, dass sie immer noch jeden befallen kann. Sie ist nur nicht mehr alltäglich. Sie ist Angelegenheit von Grenzsituationen geworden, eben solcher Lagen, in denen man zum Beispiel Speichel, Urin, Stuhlgang nicht halten kann und nicht einmal fähig ist, diesen Umstand zu verbergen. Tabus greifen nicht mehr, und auf Dauer hilft es auch nicht, eingenässte Unterhosen und Schlüpfer hinter Blumentöpfen, in Wandschränken zu verbergen oder sie aus dem Fenster zu werfen, um die Scham zu vermeiden, die es bedeutet, sich beobachten lassen zu müssen in Kontexten, die ein Leben lang „intimisiert“ waren.

Die Beobachter, das sind die Leute des pflegenden (behandelnden) Personals, das tagtäglich mit Dingen zu tun hat, die alltäglich Scham auslösen würden. Kein Wunder, dass sich Routinen einstellen, Schamgrenzen verschwinden, bestätigt zusätzlich dadurch, dass auch nicht wenige der alten Leute diese Grenzen unentwegt zu überschreiten scheinen. Was dabei entsteht, ist eine seltsam einseitige Kultur der Zugänglichkeit von Körpern, der Preisgabe von fundamentalen Vorbehalten, durch die zuvor (im Leben da draußen) individuelle Identität gesichert wurde – eine Kultur der Reduktion auf Körperbewandtnisse, die primär defektologisch orientiert ist.

Folgerichtig ist die Sozialisation der Heimbewohner gekennzeichnet durch die fortlaufende Produktion intensivster Schammöglichkeiten bei gleichzeitigem Entzug der Möglichkeit, durch die Kommunikation von Scham irgendetwas zu ändern. Das praktische Rezept ist es, Situationen, in denen Scham sonst unvermeidbar wäre, durch arbeitsame Pflegewerkelei zu entschärfen, durch Betriebsamkeit, die auch noch davon absehen kann, dass nicht immer gleiche Leute Schamgrenzen überschreiten müssen, sondern wechselnde Leute, die neue Pflegerin, der Zivildienstleistende, die ungelernte Hilfskraft. Die Beobachtung, die der gealterte Körper erfährt, inflationiert. Es gibt keine Stufen der intimen Zugänglichkeit, die an bestimmte Personen gebunden wären, keinen Intimpass, mit dem sich regulieren ließe, vor wem man sich nicht mehr, vor wem man sich aber bestimmt schämen müsste.

Vier Stunden nach dem Mittagessen kommen zwei Pflegerinnen zum bettlägrigen Klienten. Sie sind ins Gespräch vertieft und offenbar sehr empört über die neuesten Drohungen und Abmahnungsbereitschaft der Heimleitung (darüber wäre eigentlich eine eigene Serie zu schreiben). Während sie reden, wird der Klient, der eingekotet hat, gereinigt. Im Nu ist die Bettdecke zur Seite geworfen, die Windelhose aufgerissen. Der alte Herr hat es mit Damen zu tun.

Reflexhaft versucht er, soweit die Kontrakturen seiner Arme dies zulassen, seine Blöße zu bedecken. Aber er muss entblößt werden. Die eine Pflegerin hält die Arme des Mannes zurück, die andere spreizt die Beine, die er übereinander geschlagen halten will, und säubert die Genitalien. Im nächsten Moment betritt – unvorhergesehen – eine leitende Angestellte den Raum und baut sich am Bettende vor den gespreizten Beinen des eingekoteten Herrn auf wie andere vor einem Rednerpult: Was folgt, ist eine kurze Dienstbesprechung. Währenddessen wird der Mann endgültig fertig- und zugemacht. Das Trio infernale zieht ab, allerdings nicht, ohne das Radio angeschaltet zu haben. Selbstredend läuft Volksmusik.

Wiederum: Es ist schwer, jemanden namhaft zu machen, der sich nun zu schämen hätte. Der Anblick von und der Umgang mit intimen Körperzonen und mit allen Körperausscheidungen ist aus der Pflegearbeit (in der keine Zeit für Beziehungspflege ist) nicht wegzudenken. Manchmal bis zu zwanzig Mal am Tag sieht der starre Arbeitsplan das Säubern von Genitalien, das Leeren von Kathetern, künstlichen Darmausgängen, das Entsorgen von Ausscheidungsauffangmaterialien und ähnliche Arbeiten vor. Da ist Scham und Trost für sich Schämende nicht möglich, schon gar nicht Scham über die Scham, die man erzeugt. All das wäre angesichts notwendiger Routinen nichts weiter als dysfunktional. In der Tat, die Alterspflegeeinrichtung ist ein Betrieb, der genötigt ist, die alten Leute zu „objektivieren“.

Da ist eine alte Dame, die wegen der parkinsonschen Krankheit ans Bett gefesselt ist. Ihr soll (muss?) ein Katheter gesetzt werden. Die Dame, die logischerweise untenrum völlig nackt ist, nimmt vermutlich wahr, wie die Pflegekräfte, je nachdem die Beine oder den Schlauch haltend, dem Arzt dabei helfen, den Schlauch zu applizieren. Sie sieht, wie sie gesehen wird. Die Scham müsste grenzenlos sein.

Wäre sie vermeidbar? Wahrscheinlich würde es genügen (wenn wir vorläufig von strukturell bedingtem Zeitdruck absehen), die alten Leute, die pflegebedürftig und verwirrt erscheinen, in einer Art habermasianischen Figur als Personen aufzufassen, die eine kritische Beobachtungsgabe, ein lebendiges Gefühlsleben haben – auch wenn aller Anschein dagegenspricht. Pflegende müssen darin trainiert sein (und unentwegt in dieser Hinsicht supervidiert werden), sich jederzeit die Frage stellen zu können: Was wäre, wenn ich nicht annähme, dieser Herr oder jene Dame wären nicht mehr ihrer Sinne und ihres Verstandes mächtig? – Oder die Gegenfrage: Was tue ich, weil ich unterstelle, diese Dame oder jener Herr seien nichts weiter als defekte und/oder demente Lebewesen?

Die Antwort auf die erste Frage (die auf die zweite erübrigt sich) ist einfach. In unserem Beispiel: Man muss die alte Dame sehen und spüren lassen, dass die Situation nicht einfach ist, dass man beteiligt ist, dass ihr Körper nicht als Objekt wie ein Schweinebraten aufgefasst wird, den man teilnahmslos anstarren kann. Notwendige Handgriffe können verdeckt (ja sogar keusch) durchgeführt, die Zeit des Aufdeckens minimiert werden. Bei alledem kann taktvolle (nichttechnische) Kommunikation gepflegt werden, die auch dann nicht schädlich ist, wenn der alte Mensch selbst nicht mehr viel sagen kann.

Dass man mit ihm redet, verwandelt ihn – für den Pflegenden – aus dem Status einer biophysischen Kompaktmasse in einen Menschen, der Augen hat, in die man hineinschauen kann und aus denen er irgendwie herausschaut. Das Gesicht wird zum Antlitz, und darauf, nur darauf könnte es ankommen.

Aber es geht nicht nur um den medizinischen Blick auf den entblößten Körper. Eine andere alte Dame sitzt auf der Toilette. Da die Frau mehrere Schlaganfälle hinter sich hat, muss der Pfleger bei ihr bleiben, damit sie nicht von dem speziellen Toilettenstuhl rutscht. Verlegen lächelt die Dame zu dem Mann hinauf, der Verständnis für die Situation zu haben scheint und ein wenig verkrampft zurücklächelt. „So, nun machen Sie schön!“ Ein kurzes Klopfen an der Tür, ein Kollege betritt das Klo. Es geht um Herrn Schmidtmeier. In dem 1,5 x 1,5 Meter großen Raum wird es eng. Die alte Dame kann – bemüht darum, nicht abzurutschen – hören, worüber sich die beiden Herren unterhalten. Ein kurzer Schreckenslaut, die Dame rutscht. „Ach . . . Unsere kleine Schiefsitzerin hier!“, sagt der Ankömmling.

Und wir ziehn, weil man dazu nichts mehr sagen kann, für diesmal den Vorhang zu.