Späte Butterstulle im Feenpalast

■ Der „erste verschämte Kuss beim Mondscheinwalzer“: In Sielers Ballhaus schlugen einst die Herzen hoch. Heute bietet hier ein Supermarkt seine Waren unter schnödem Neonlicht an. Ein Stück Gröpelinger Geschichte ist jetzt vom Abriss bedroht

In Gröpelingen brodelt es: Für ein neues Einkaufszentrum an der Lindenhofstraße soll nämlich der letzte Rest von „Sielers Ballhaus“ verschwinden. Das gefällt vor allem den Alteingesessenen nicht. „Die Älteren hier erzählen von ihrem ersten verschämten Kuss beim Mondscheinwalzer bei Sielers“, erzählt Günter Reichert. Am Ballhaus hänge für viele ein Stück Nostalgie. Dafür kämpft Reichert von der Geschichtswerkstatt Gröpelingen seit über einem Jahr.

Das alte Ausflugslokal „Sielers Ballhaus“ ist für Uneingeweihte nicht ohne weiteres zu finden: Von dem um 1900 gebauten Haus hat der Krieg nämlich nur die Fassade und den Spitzgiebel in der Mitte des Dachs übrig gelassen. Die Vorderfront ist heute weiß. Fensterrahmen und Stuck sind dunkelrot abgesetzt. Viele Jahrzehnte jünger ist die Leuchtreklame vom „Rewe“-Supermarkt, der heute hinter der historischen Ansicht EU-genormte Äpfel und haltbar gemachte Milch anbietet.

Reichert erzählt: „Ein Architekt glaubt sogar, dass das Haus von 1880 sein könnte. Da gab es nämlich eine Mode, im 'schweizer Stil' zu bauen.“ Auf alten Fotos sieht man, was er damit meint: Der Giebel war ursprünglich aus Holz. Und da, wo heute die rot-weiß-orangene Leuchtreklame prangt, war vor hundert Jahren ein hölzerner, gedrechselter Balkon. „Eigentlich war das Kitsch, nichts architektonisch Wichtiges oder so“, räumt Reichert ein. „Aber die Gröpelinger identifizieren sich mit dem alten Gemäuer“. Außerdem seien im Stadtteil schon so viele alte Gebäude verschwunden. Als Beispiel nennt er den Abriss der Nicolai-Kirche aus dem Jahr 1350. Sie musste in den 60ern einem AG Weser-Parkplatz weichen.

Als Ferdinand Sieler das Haus Anfang des 20. Jahrhunderts kaufte, trug es den Namen „Feenpalast“. Sieler und seine Frau Sophie nannten ihr Ausflugslokal „Burg Hohenzollern“ – wie zu Kaisers Zeiten üblich. Das Lokal war ein beliebtes Ausflugsziel bei den BremerInnen, die am Wochenende mit der Straßenbahn herausgefahren kamen. Dann schwofte die Bourgeoisie Walzer und Tango. Unter der Woche legte die Arbeiterschaft flotte Volkstänze aufs Parkett.

Auch Vereine und Parteien mieteten den Saal: für Harmonika-Club-Abende wie für politische Versammlungen. Die waren nämlich unter freiem Himmel verboten.

In der Zeit der Weimarer Republik schließlich war der Name „Burg Hohenzollern“ für das Lokal unpassend geworden, so dass Ferdinand und Sophie Sieler ihr Lokal in „Sielers Ballhaus“ umbenannten. Sophie Sieler habe genauestens darauf geachtet, dass die jungen Frauen nicht zu viel Alkohol bekamen. Das berichtet eine alte Gröpelingerin in einem Film, den die Geschichtswerkstatt über das Ballhaus produziert hat. „Mutter Sieler hat uns nicht um zehn nach Hause geschickt, wie in anderen Lokalen. Manchmal hat sie uns noch mal ein Butterbrot gemacht.“

Als die Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren versuchten, im „roten“ Arbeiterstadtteil Gröpelingen Fuß zu fassen, kam es zu Schlägereien zwischen SPD, KPD und den Nazis. Sielers Ballhaus blieb davon verschont. Dort konnten alle Parteien den großen Saal mieten. Im Gegensatz dazu brauchten sich die Nationalsozialisten im „Café Flora“, dem Stammlokal der Sozis, gar nicht erst blicken zu lassen. Riskierten sie es doch, gab es Stunk und Kloppe. Deshalb hatte das „Flora“ auch einen Beinamen: „blutiger Knochen“.

1939 verkaufte Sophie Sielers ihr Ballhaus an die deutsche Marine. Als der Krieg zu Ende war, fiel das Haus in die Hände der Amerikaner. Und die haben es als Entschädigung einer Gruppe von Kommunisten überlassen. Die baute das Ballhaus wieder auf, die Kreisleitung der KPD zog ein. Außerdem rösteten hier Arbeiter Kaffeebohnen, die sie von ihrer Arbeit im Hafen mitbrachten. Mit dem Verbot der KPD wurde Sielers Ballhaus beschlagnahmt.

Seit Ende der fünfziger Jahre hatten erst ein Möbelgeschäft und seitdem mehrere Supermärkte ihr Quartier in der Lindenhofstraße 13. Bis heute.

Jetzt verhandelt die „Bremische“ als Sanierungsträger des Lindenhofquartiers mit der Investorenfirma Riggers über deren Pläne. Riggers wollte hier bislang sein Einkaufszentrum ohne Rücksicht auf Geschichte hochziehen, die letzten Reste von Sielers Ballhaus verschwinden lassen. Anne Lüking von der „Bremischen“ will sich nicht zu den Gesprächen äußern. „Dazu sage ich nichts. Wir sind mitten in den Verhandlungen.“ Jörn Ehmke, ebenfalls von der „Bremischen“, sagt, er kenne in Gröpelingen niemanden, der dagegen sei, die Fassade zu erhalten. Und Lüking fragt sich, ob die Firma Riggers, die bereits die Hausfassade Am Wall 139 nicht erhalten wollte, ein zweites Mal gegen den Willen der Bevölkerung ein altes Gebäude abreißt. Wenn Mitte Dezember der Gröpelinger Beirat tagt, sieht man vielleicht klarer.

aro