Die Flut des Schweigens

Der Japaner Shinji Aoyama begibt sich auf eine Reise in die Psyche dreier Terroropfer. Sein Film „Eureka“ sprengt die gewohnten Rahmen von Zeit und Raum – ein Versuch über die Sinnlosigkeit des Todes und die Zufälligkeit des Weiterlebens

von HELMUT MERKER

Eine Flutwelle wird kommen. Sie wird uns alle wegschwemmen. Stellen Sie sich vor, Sie gehen ins Kino, der Film beginnt mit einer solchen Ankündigung und dauert dann 3 Stunden und 37 Minuten. Sein Titel, „Eureka“, ist griechisch, der Name des Regisseurs, Shinji Aoyama, sagt Ihnen nichts, die Personen sprechen Japanisch, Sie müssen also Untertitel lesen, aber es wird sowieso kaum geredet, und es passiert fast nichts, abgesehen vom Prolog der ersten fünf Minuten. Darinnen: zwei Schulkinder an einer Bushaltestelle, ein Winken zurück zu der Mutter; der Junge und das Mädchen steigen in den Bus, setzen sich in die letzte Reihe, weitere Fahrgäste steigen hinzu, mit dem Fahrer sehen wir nach draußen durch die Panoramascheibe, die genau dem Wide-Screen-Bild des Cinemascope-Formates entspricht. Eine Idylle – und ihre Zerstörung.

Eine friedliche Busfahrt und dann die extreme Großaufnahme: eine blutige Hand auf dem Straßenpflaster. Dazwischen: ein einziger Schnitt – mit den Ellipsen, die das Geschehen schnell überspringen. Danach: die Totalen, die es in die Distanz rücken. Entführung, Terroranschlag, Blutbad müssen nicht gezeigt werden, Polizeiaktion und Befreiung brauchen nur angedeutet zu werden. Im Innern des Busses dann die drei Überlebenden: der Fahrer zittert, die beiden Kinder sind erstarrt. Was ganze Actionfilme füllen könnte, ist hier herausgeschnitten.

Eine Flutwelle wird kommen. Sie wird uns alle wegschwemmen. Die apokalyptische Warnung, die Sinnlosigkeit des Todes, die Zufälligkeit des Weiterlebens, die scheinbare Ruhe, die danach kommt: eine weitere große Ellipse, „Zwei Jahre später“. Keine Handlungen, die die Flutwelle in Gang gesetzt hätten; es ist eine seltsame außerweltliche Welle, eine, die von wilder See kommt und einen verhängnisvollen gläsernen See zurücklässt. Keine Suche nach Rache oder Gerechtigkeit, keine Frage nach den Ursachen des Ereignisses. Der Film handelt von dem Gram und der Trauer, von der Verzweiflung und dem Schuldgefühl der Opfer. Und das Unglück schreitet weiter fort und fort.

„Ist es recht von mir, dass ich überlebt habe?“, fragt sich Makoto, der Fahrer. Er ist eine freundliche und gedankenvolle Seele, sein Name bedeutet „ehrlich, direkt“, aber aushalten kann es nun keiner mehr mit ihm. Ihn umgibt die Erinnerung an das Böse, seine Nähe bereitet jedem konstantes Unbehagen. Zudem entschuldigt er sich dauernd mit der Floskel „Es tut mir Leid“: wenn er seiner Familie zur Last zu fallen glaubt, die ihn schließlich abschiebt, wenn er noch einmal seine Frau trifft, die sich von ihm scheiden lässt, wenn er mit der neuen Arbeit nicht fertig wird, wenn eine nette Kollegin ihn in ein Gespräch zu ziehen versucht. Sein Verteidigungsmechanismus ist der hilflose Versuch, sich für eine zutiefst unaussprechliche Schuld zu entschuldigen, es tut ihm einfach Leid, dass es ihn überhaupt noch gibt, denn er kann sich in kein Zusammenleben mit anderen mehr einpassen. Einmal, nachts, allein im Zimmer, stellt er die Lampe vors Fenster und knipst sie an und aus und an und aus, wechselweise zieht er so die Außenwelt an seine Existenz heran, stößt sie wieder ab, mechanisch, wieder und wieder und zeigt in diesem Bild seine Zerrissenheit intensiver, als jedes Reden es tun könnte.

Die Kinder legen unterdes vier Gräber in ihrem Garten an; vier ist zugleich das Symbol für die traditionelle japanische Familie, zwei Eltern und zwei Kinder. Diese Eltern haben ihre Kinder inzwischen verlassen: die Mutter geht aus dem Hause fort, zu einem anderen Mann, der Vater fährt sich, möglicherweise aus Gram, in seinem Auto zu Tode; Kozue und Naoki gehen fortan nicht mehr zur Schule, leben allein in ihrem Haus. Es gibt keinen Ausdruck dafür, was ihnen widerfahren ist, folglich reden die Kinder überhaupt kein Wort mehr und kommunizieren bloß noch miteinander in einer Art geheimnisvoller Telepathie.

Ein Film der Pausen und des Schweigens: nur selten eine musikalische Untermalung, man muss auf die Geräusche der Umwelt achten: Fußtritte und Wassertropfen, Grillenzirpen, Windrauschen und Klopfzeichen geben die Melodie an. Jede Einstellung ist mit architektonischer Strenge komponiert und dauert stets mehrere Sekunden länger, als man gewohnt ist, und zieht einen dadurch wie in einen Sog hinein. Der Film ist schwarzweiß und düster, das heißt, er hat einen Sepiaton, denn er wurde auf Farbfilm gedreht, doch die Farben wurden ihm durch Filter und Umkopierung ausgetrieben. Es gibt wenige und dann genau bemessene Kamerabewegungen; hypnotisch langsam werden die emotionalen Zustände gedehnt. Die Spannung des Schreckens, die durch den Anfang gesetzt ist, pulsiert durch die ruhigsten Momente. So wird zum eigentlichen Thema des Films: die Zeit – wie er mit Tempo und Rhythmus umgeht, wie er Stillstand und minimalistische Entwicklungen darstellt. Darin sprengt er jeden gewohnten Rahmen von Zeit und Raum. Es ist eine Reise durch sehr fremde und sehr nahe Welten; geografisch heißt das Land: Japan, humanistisch nennt man diesen Bereich: menschliche Seele. Es gibt Filme, die einen fröhlicher entlassen, aber kaum welche, die einen so wenig loslassen.

Makoto wendet sich an den einzigen Ort, an dem er weiterleben kann: bei den Kindern. Er stellt sich ihnen einfach zur Verfügung, und sie weisen ihn nicht ab. – Ein heroisches alltägliches Unternehmen, wie er sich um sie kümmert und Vaterfigur und Schutzengel wird. Dabei ist nie klar, ob sie es nötiger haben, dass er ihnen hilft, oder ob sie ihm mehr damit helfen, dass er bei ihnen sein kann. Von der ersten Begegnung an stehen die Personen immer wieder im Zentrum eines Bildes, eingerahmt wie in einem Standfoto, das ihre Entfremdung und Erstarrung betont. Je länger man sie anschaut, desto starrer schauen sie zurück.

Eine sonderbare kleine Familie bildet sich auf diese Weise. Neurose und Autismus, katatonisch und paralysiert, das sind so die Begriffe, die ihren Zustand beschreiben. Aber nichts liegt dem Film ferner als psychologische Diagnosen oder Therapien, wo es um Leiden kosmischen Ausmaßes geht, das Menschen Menschen antun können. Erinnerungen an das Giftgasattentat auf die U-Bahn in Tokio oder an den Zustand der japanischen Gesellschaft nach den Atombomben im Zweiten Weltkrieg wirken hier nach. Buchstäblich an den Rändern des Bildes tauchen zudem Indizien für eine Mordserie in der Umgebung auf. Makoto gerät zwischenzeitlich in Verdacht, er wird verhört und wieder freigelassen. Nur scheinbar kombiniert „Eureka“ verschiedene Genres wie Drama, Thriller, road movie – es ist eine umfassende comédie humaine jenseits aller üblichen Sehgewohnheiten und Spannungsregeln.

Ein konventionelles Drama böte die Story von Tragödie, Trauma und Wiedererweckung zum Leben; dieser Film aber taucht in den Gemütszustand der drei ein, mit Geduld und Hingabe, und dramatisiert ihn nicht, weil er zu fragil ist, um seine Personen an einen narrativen Handlungsfaden zu knüpfen. Einmal liegt Kozue krank darnieder; als Makoto vor ihr kniet und ihr Trost zuspricht, hält sie sich an ihm fest, er kann nicht mehr aufstehen und verharrt so, zwischen Umarmung und Umklammerung, äußerlich angespannt, innerlich bewegt, in seiner unbequemen Lage, und er und wir warten ab, bis Kozue ihn vor Müdigkeit loslässt.

So zieht auch der Film seine Zuschauer in seine Welt hinein. Die langen Einstellungen, die ungewöhnlich fotografierten Szenen, die zurückgenommene Darstellungsweise der Hauptfiguren, die unprofessionelle Konzentration der stummen Geschwister, all das führt zu fremdartig-vertrauten Visionen eines Zwischenreiches: Reflexion des Lebens, Meditation über den Tod.

Die innere Reise der drei findet ihre Entsprechung in der äußeren, mit der der Film quasi aufs Neue anhebt. Makoto besorgt einen Bus, und das ist der Wendepunkt und ein Paradox. Denn mit ihrem Aufbruch wird zunächst der feste Kokon, in den sie sich in dem Haus eingesponnen haben, bloß gegen den fahrenden ausgetauscht, und ihre Isolation hält an. Unterwegs in dem Lande, fernab aller touristischen Reize, wird der Film noch ruhiger, noch stiller. Aber die Kinder sind damit aus ihrer Festung herausgeholt, dieser qualvoll langsame, fast unmerkliche Prozess beginnt mit einer Fahrt durch ein Niemandsland leerer Landstraßen, Parkplätze, Imbissbuden. Die verunzierte Landschaft als sinnfällige Metapher für die Willkür zeitgenössischer Kultur. Dann aber schreiten die Personen einmal minutenlang zwischen grasenden Kühen einen Hügel hinauf, zusammen, jedoch in großen Abständen voneinander getrennt. Die Kamera folgt ihnen, behutsam, aus weiter Entfernung, hebt keinen von ihnen einzeln heraus, zeigt Figuren als leere Chiffren im unendlichen Raum. Danach sitzt die Gruppe im Gras, und der Blick nach oben in die Wolken deutet an, dass sie in einer höheren Ordnung aufgehoben sind.

Bei aller Einzigartigkeit dieses Werkes binden ihn ein paar Hinweise sozusagen in die Filmgeschichte ein: bei einer gemeinsamen Rast sehen die Personen mit ihren Sonnenbrillen plötzlich aus wie die beiden „Kings of the Road“ in Wim Wenders’ „Im Lauf der Zeit“, und der Vetter, der ihnen zugelaufen ist, will einen Freund besuchen, der in der Stadt Filmvorführer ist. Je länger der Film dauert, desto unberührter wird die Natur, desto mehr nimmt sie Dimensionen an wie John Fords Monument Valley in „The Searchers“, und der letzte Satz zitiert bewusst John Waynes Ruf an Natalie Wood: „Lass uns nach Hause gehen.“

Bei der Suche nach Gründen, im Angesicht des Terrors weiterzuleben, ist die Schönheit eines solchen Filmes nicht das schlechteste Argument. Die angedeutete Erlösung für die Filmfiguren, das Erlebnis eines cineastischen Highlights für die Filmzuschauer – „Eureka“ bedeutet den freudigen Ausruf: „Ich habe es erreicht, ich hab’s gefunden.“

„Eureka“. Regie: Shinji Aoyama. Mit: Yakusho Koji, Miyazaki Aoi, Saotoh Yohichiroh u. a. Japan, 1999, 217 Min.