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: Die Durchsetzung von Pop und andere Mythen

Warholizität

In dem zweiten, systematischen, „schwierigeren“ (und deshalb gerne überblätterten) Teil der „Mythen des Alltags“ hat Roland Barthes den „Mythos“ als „Mitteilungssystem“ definiert, das den „Sinn“ wie ein Parasit befällt, um ihn sich auf diese Weise gefügig zu machen. Eine spannende, streckenweise auch etwas brutale Story, die man gelesen haben sollte.

Der Mythos, wie Barthes ihn 1957 verstand, schafft die Geschichte ab und ersetzt sie durch Natur. Danach organisiert der Mythos eine „Welt ohne Widersprüche“ und begründet eine „glückliche Klarheit“. Er raubt Bildern und Wahrnehmungsinhalten ihre Bedingtheit und Kausalität und besetzt die entstandene Lücke – als Metasprache, die sich über das Reale erhebt und es dadurch verändert und deformiert.

1963 reiste Andy Warhol mit Wynn Chamberlain, Taylor Mead und Gerard Malanga von New York nach Los Angeles, um eine Ausstellung zu eröffnen. Rückblickend beschreibt er den Trip, als handelte es sich um den Triumphzug eines „Mythos“ à la Barthes: „Je weiter Richtung Westen wir fuhren, desto mehr sah alles am Rand der Highways nach Pop aus. Plötzlich fühlten wir uns wie Insider, obwohl Pop überall war, aber genau darum ging es ja: Die meisten Leute nahmen es immer noch für selbstverständlich gegeben, während wir davon wie geblendet waren. Für uns war es die neue Kunst. Sobald man Pop ‚hatte‘, konnte man ein Zeichen nie mehr auf die gleiche Weise sehen. Und sobald man Pop gedacht hatte, war es unmöglich, Amerika wieder auf die gleiche Weise zu sehen.“ Das Mitteilungssystem „Pop“ hatte von seinem wichtigsten Herold Besitz ergriffen.

Entgegen mancher Legende über die Massenkultur war „Pop“ anfänglich die Angelegenheit einer ideologischen Elite, die sich im Glauben wähnte, ihren Mitmenschen eine entscheidende Modifikation der Weltwahrnehmung vorauszuhaben. Im Unterschied zu Barthes, dem Kritiker des parasitären Mythos, war Warhol nun sowohl „Mythologe“ als auch aktiv an der Verbreitung des Mythos beteiligt. Einerseits konnte er beschreiben, wie das Mitteilungssystem „Pop“ ihn und seine Freunde infizierte, andererseits rief er – ganz Parasit – zur Feier der „neuen Kunst“ auf. Falls er je von ihr erfahren hätte, dürfte Warhol die Definition des Mythos als Produzent einer „Welt ohne Widersprüche“ und einer „glücklichen Klarheit“ eher grimmig amüsiert als alarmiert zur Kenntnis genommen haben.

Gleichzeitig tat Warhol sehr viel, um das Funktionieren des Mythos „Pop“ erklärbar zu machen. Er stellte Strategien zur Verfügung, implizite Theorien über Künstlichkeit, Oberfläche-Tiefe-Verhältnisse, Passivität, Banalität, Ruhm, Technologie, De-Humanisierung, sexuelle Politik usw. Mit anderen Worten: Warhol produzierte das Mitteilungssystem, lieferte aber auch das analytische Besteck.

Diese Kombination aus Mythenfabrik und „mythologischer“ Lektüre kann, wie der Warhol-Enthusiasmus zeigt, ihrerseits zum Mythos kristallisieren. Dabei ist die Metasprache, die einen warholesken Welt-Zugriff strukturiert, nur mit einer jener Wortschöpfungen zu benennen, zu denen die „Mythologie“ nach Barthes gezwungen ist, um eine „angemessene Terminologie“ zu entwickeln. Zwar biete sie Anlass zur „Ironisierung“, doch war Barthes überzeugt, dass die mythologische Begriffsbildung Wörter wie „Sinität“ erforderlich mache: Wie sonst sollte man etwa jene Vorstellung von „China“, wie man sie bei französischen Kleinbürgern antreffe, diese „spezifische Mischung aus Rikschas, Glöckchengeklingel und Opiumrauchen“, auch bezeichnen?

Analog zu diesem Verfahren drängt sich der Begriff „Warholizität“ auf. Vielleicht kann dieses Ungetüm helfen, jenen Vorstellungsmix zu benennen, den eine globale Warhol-Industrie zum ultimativen Fifteen-Minutes-Thirteen-Most-Wanted-I’m-a-machine-Silberperücken-Desaster-Blow-Job aufschäumt. Ein „Mitteilungssystem“ also, das alle als vollkommen evident anerkennen, ohne lange zu fragen: Was geht hier vor? Vorläufige Definition der Warholizität: Sobald man „Warhol“ hat, kann man ein Zeichen nie mehr auf die gleiche Weise sehen. Aber, würde der Mythologe Barthes fragen: Was genau ist dann zu sehen? TOM HOLERT

Mehr zur Ausstellung unter: www.warhol-retrospektive-berlin.de